Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flug 2039

Flug 2039

Titel: Flug 2039 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
Vom Netzwerk:
breitete sich in alle Richtungen bis zum Horizont aus.
    Selbst unter dem bislang niedrigen Wasser wirkte der Schachbrettboden aus Mahagoni und Walnuss verloren und unerreichbar. Hier bot sich ein letzter Blick auf den Kontinent Atlantis: Das Salzwasser stieg um die Statuen und Marmorsäulen, als Trevor und Fertility an dieser Legende einer verschollenen Zivilisation vorbeitanzten, vorbei an vergoldetem Schnitzwerk und reich verzierten französischen Palasttischen. Der Meeresspiegel hob sich diagonal vor lebensgroßen Porträts von gekrönten Königinnen, während das Schiff sich noch steiler stellte und die Blumen aus den Vasen fielen: Rosen und Orchideen und Zieringwer stürzten ins Wasser, in dem Champagnerflaschen schaukelten und Trevor und Fertility Walzer tanzten.
    Das Metallskelett des Schiffs, die Schotts hinter Holzvertäfelung und Wandbehängen bebten und ächzten.
    Ich frage sie, ob sie da absichtlich habe ertrinken wollen.
    »Sei nicht albern«, sagt Fertility; ihr Kopf liegt an meiner Brust, ihr Gifthauch hüllt mich ein. »Trevor hat sich nie geirrt. Das war ja das große Problem mit ihm.«
    Was heißt das? Nie geirrt?
    Trevor Hollis hatte Träume, sagt sie. Zum Beispiel träumte er von einem Flugzeugabsturz. Trevor setzte die Fluggesellschaft davon in Kenntnis, aber dort glaubte man ihm nicht. Dann stürzte das Flugzeug ab, worauf das FBI ihn festnahm und verhörte. Es war eben einfacher, ihn für einen Terroristen als für einen Hellseher zu halten. Derartige Träume bedrängten ihn so sehr, dass er kaum noch schlafen konnte. Er wagte es nicht mehr, die Zeitung zu lesen oder fernzusehen, weil er keine Flugzeugabstürze mit zweihundert Toten mehr voraussehen wollte, die er doch nicht verhindern konnte.
    Er konnte keinen einzigen Menschen retten.
    »Unsere Mutter hat sich umgebracht, weil sie auch immer solche Träume hatte«, sagt Fertility. »Selbstmord hat in unserer Familie eine alte Tradition.«
    Immer noch tanzend sage ich zu mir selbst: Da haben wir wenigstens etwas gemeinsam.
    »Er wusste, dass das Schiff nur halb untergehen würde. Irgendein Ventil oder so was würde versagen, und der Maschinenraum und einige der größeren Säle unter Deck würden voll Wasser laufen«, sagt Fertility. »Er wusste aus seinen Träumen, dass wir das ganze Schiff stundenlang für uns allein haben würden. Den Wein und das Essen, alles für uns allein. Bis man uns retten würde.«
    Immer noch tanzend frage ich: Und deshalb hat er sich umgebracht?
    Eine Minute lang antwortet mir nur die Musik.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön das war: die überfluteten Tanzsäle, die Klaviere unter Wasser, all die bestickten Polsterstühle, die um uns herumschwammen«, sagt Fertility an meine Brust gelehnt. »Das ist die schönste Erinnerung, die ich habe, die allerschönste.«
    Wir tanzen an Statuen vorbei, an den Heiligen einer anderen Religion. Für mich sind es nur steinerne Abbilder aufgemotzter Niemande.
    »Das Wasser des Atlantiks war so klar. Es strömte die große Treppe herunter«, sagt sie. »Wir haben einfach die Schuhe ausgezogen und weitergetanzt.«
    Immer noch tanzend, eins, zwei, drei, frage ich sie, ob sie auch solche Träume hat.
    »Manchmal«, sagt sie. »Selten. Aber es werden immer mehr. Mehr als mir lieb ist.«
    Ich frage sie, ob sie sich dann auch umbringen will so wie ihr Bruder.
    »Nein«, sagt Fertility. Sie hebt den Kopf und lächelt mich an.
    Wir tanzen, eins, zwei, drei.
    »Kommt jedenfalls nicht in Frage, dass ich mich erschieße«, sagt sie. »Ich würde wahrscheinlich Pillen nehmen.«
    Zu Hause habe ich in der Zuckerdose neben meinem Goldfisch auf dem Kühlschrank meinen Vorrat an Medikamenten, die mir die Regierung zur Verfügung stellt: Antidepressiva, Schlaftabletten, Stimmungsaufheller, Sedativa und MAO-Hemmer.
    Wir tanzen, eins, zwei, drei.
    »War nur ein Scherz«, sagt sie.
    Wir tanzen.
    Sie legt den Kopf wieder an meine Brust und sagt: »Kommt allerdings ganz darauf an, wie schlimm meine Träume noch werden.«

Kapitel 37
    An diesem Abend fange ich wieder an, ans Telefon zu gehen. Zuvor war ich so aufgegeilt, dass ich in die Stadt musste, um irgendwas zu stehlen. Dabei will ich mich nicht bereichern, ich will bloß abspritzen. Das ist okay. Die Sozialarbeiterin sagt, es ist okay. Es ist eine sexuelle Entlastungshandlung, erklärt sie mir. Völlig natürlich. Man findet, was man braucht. Man pirscht sich heran. Man packt es und macht es zu seinem Besitz. Und wenn man’s gehabt hat,

Weitere Kostenlose Bücher