Flug 2039
loswerden. Ich wollte nicht über meine tote Familie sprechen. Trauerarbeit leisten, wie sie das nannte. Mich davon befreien. Alles hinter mir lassen.
Die Sozialarbeiterin heilte mich von hundert künstlichen Syndromen und erklärte mich dann für gesund. Wie stolz und glücklich sie war. Sie entließ mich als geheilt in den hellen Tag. Du bist geheilt. Steh auf und wandle. Ein Wunder der modernen Psychologie.
Erhebe dich.
Dr. Frankenstein und ihr Ungeheuer.
Das konnte einem Fünfundzwanzigjährigen schon zu Kopf steigen.
Die einzige Nebenwirkung besteht darin, dass ich jetzt zum Stehlen neige. Nachdem ich einmal auf Kleptomanie verfallen war, wollte ich sie nicht mehr missen. Bis heute Abend.
Heute, zehn Jahre später, gehe ich durch die Stadt und hebe den nächsten Kassenzettel auf. Und werfe ihn wieder weg. Nachdem ich meine Probleme zehn Jahre lang versteckt habe, damit die Sozialarbeiterin nicht daran herumpfuschen konnte, brauche ich jetzt nur noch mit irgendeinem Mädchen Cha-Cha-Cha zu tanzen, und schon ist mein chronischer Stehltrieb verschwunden. Die einzige wirkliche Psychose, die ich der Sozialarbeiterin verheimlicht habe, ist von einer Fremden geheilt worden.
Wir haben nur getanzt, sonst nichts. Fertility erzählte von ihrem Bruder und wie das FBI sein Telefon abgehört hatte, sodass sie bei jedem Gespräch mit ihm im Hintergrund das Klicken des staatlichen Tonbandgeräts hörte. Sie wusste schon vorher, dass Trevor sich umbringen würde. Das hatte sie in ihrem ersten Zukunftstraum gesehen. Wir tanzten noch eine Weile weiter. Dann musste sie gehen. Sie versprach, nächste Woche, nächsten Mittwoch, zur gleichen Zeit am gleichen Ort, werde sie wieder da sein.
Heute Abend gehe ich im Foxtrottschritt von einer Straßenlaterne zur anderen. In meinem Kopf läuft ein Walzer. Die Erinnerung an Fertility Hollis ruht in meinen Armen und an meiner Brust. Schließlich komme ich nach Hause. Oben klingelt das Telefon schon wie verrückt. Könnten Schizoide sein, Paranoiker, Pädophile.
Kenne ich alles, möchte ich ihnen sagen. Alles selbst erlebt.
Könnte auch Fertility Hollis sein, die heute vielleicht noch einmal mit mir tanzen will. Die ihren zweiten Eindruck auf mich machen will.
Vielleicht will sie mir von der schrecklichen Arbeit erzählen, mit der sie ihr Geld verdient.
Endlich öffnet sich die Aufzugstür, und ich renne los, um den Hörer abzunehmen.
Hallo.
Die Wohnungstür hinter mir steht noch offen. Der Fisch muss gefüttert werden. Die Vorhänge sind noch nicht zugezogen, während es draußen schon fast ganz dunkel ist. Jeder kann hier reinsehen.
Ein Mann am anderen Ende der Leitung sagt: »Mögest du dein Lebtag nur nützlich sein.«
Ohne nachzudenken, antworte ich: Lob und Preis dem Herrn für diesen arbeitsreichen Tag.
Er sagt: »Mögen deine Mühen alle Menschen in den Himmel bringen.«
Ich frage: Wer ist da?
Und er sagt: »Mögest du sterben, sobald deine Arbeit vollendet ist.«
Dann legt er auf.
Kapitel 36
Chrom kann man mit Selterswasser auf Hochglanz polieren. Besteckgriffe aus Elfenbein oder Knochen reibt man mit Zitronensaft und Salz ein. Einen zu stark glänzenden Anzug befeuchtet man mit einer Mischung aus Wasser und etwas Ammoniak, um ihn anschließend unter Hilfe eines feuchten Bügeltuchs zu bügeln.
Das Geheimnis eines perfekten Bœuf Bourguignon ist ein Schnitz Orangenschale.
Kirschflecken reibt man mit einer reifen Tomate ein; dann ganz normal waschen.
Entscheidend ist, nicht in Panik zu geraten.
Damit Hosen ihre Bügelfalte behalten, stülpe man sie um und reibe die Falte auf der Innenseite mit einem Stück Seife ein; dann wieder umdrehen und ganz normal bügeln.
Wichtig ist, sich ständig zu beschäftigen.
Obwohl der Killer angerufen hat, arbeite ich ganz normal weiter.
Man darf sich nur nicht von seiner Phantasie fortreißen lassen.
Ich putze die ganze Nacht hindurch. Ich kann nicht schlafen. Zum Reinigen des Backofens erhitze ich darin eine Pfanne mit Ammoniak. Eine andere Methode für dauerhafte Bügelfalten geht so: Das Bügeltuch mit Wasser und Essig anfeuchten. Ich säubere meine Fingernägel vom Schmutz des Tages. Wenn ich kein Fenster öffne, werde ich am Gestank des kochenden Ammoniaks ersticken.
Ich muss das einfach loswerden.
Die Sozialarbeiterin ist nicht zu erreichen. Alle zehn Minuten rufe ich in ihrem Büro an, höre aber immer nur den Anrufbeantworter. Zum ersten Mal in zehn Jahren rufe ich sie an. Und was höre ich? »Bitte sprechen Sie
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