Flug 2039
wirft man es weg.
Es war die Sozialarbeiterin, die mich überhaupt erst zum Ladendieb gemacht hat.
Die Sozialarbeiterin nannte mich ein Lehrbuchbeispiel an Kleptomanie. Sie zitierte Untersuchungen. Indem ich stehle, erklärte sie, hindere ich andere daran, meinen Penis zu stehlen (Fenichel, 1945). Diebstahl sei ein Drang, den ich nicht beherrschen könne (Goldman, 1991). Ich stehle wegen einer Stimmungsstörung (McElroy u.a., 1991). Was ich stehle, sei egal: Schuhe, Klebeband, Tennisschläger.
Das Dumme ist jetzt nur, dass ich nicht einmal mehr vom Stehlen den alten Kick bekomme.
Vielleicht liegt das an Fertility.
Vielleicht habe ich Fertility auch nur deshalb kennen gelernt, weil mein Sexualleben als Verbrecher mich zu langweilen beginnt.
In letzter Zeit begehe ich keine Ladendiebstähle mehr, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Statt Waren zu stehlen, laufe ich in der Stadt herum, bis ich irgendeinen Kassenzettel finde, den jemand weggeworfen hat.
Mit dem Zettel geht man in den Laden, aus dem er stammt. Dort spielt man einen normalen Kunden und sucht irgendeinen Artikel, der auf dem Zettel steht. Damit geht man eine Weile im Laden herum, und dann gibt man den Artikel an der Kasse ab und lässt sich das Geld dafür zurückgeben. Am besten funktioniert das natürlich in großen Kaufhäusern. Und mit Kassenzetteln, auf denen die Waren explizit aufgeführt sind. Alte oder verschmutzte Zettel sollte man nicht nehmen. Auch nicht zweimal denselben Zettel. Auch sollte man die Läden, die man betrügt, häufig wechseln.
Das verhält sich zum echten Ladendiebstahl wie Masturbation zu echtem Sex.
Und natürlich ist dieser Trick in allen Geschäften bekannt.
Ein anderer guter Trick ist das Einkaufen mit einem großen Limobecher in der Hand. Darin lassen sich kleine Gegenstände gut versenken. Oder man kauft eine Dose billige Farbe, lockert den Deckel und lässt irgendwas Teures darin verschwinden. Das Metall der Dose schirmt die Röntgenstrahlen der Kontrollapparate ab.
Heute Nachmittag suche ich aber keinen Kassenzettel, ich gehe einfach nur so herum und lege mir den nächsten Teil meines Plans zurecht, wie ich Fertility packen und zu meinem Besitz machen kann. Wie ich sie haben kann. Und dann vielleicht wegwerfe. Ich muss ihre schlimmen Träume ausnutzen. Und auch unsere Tanzerei muss mir als Werkzeug dienen.
Fertility und ich haben fast den ganzen Nachmittag lang getanzt. Als die Musik wechselte, brachte sie mir die Grundlagen des Cha-Cha-Cha bei, den Cha-Cha-Cha-Kreuzschritt und wie ich die Frau halten muss, wenn sie eine Drehung macht. Sie zeigte mir auch die Grundlagen des Foxtrotts.
Sie erzählte mir, dass die Arbeit, mit der sie ihr Geld verdiene, schrecklich sei. Schlimmer als alles, was ich mir vorstellen könne.
Und als ich fragte: Was denn?
Lachte sie.
Auf meinem Weg durch die Stadt finde ich einen Kassenzettel für einen Farbfernseher. Das ist praktisch so was wie ein Hauptgewinn im Lotto, aber ich werfe ihn trotzdem in den nächsten Papierkorb.
Was mir am Tanzen vielleicht am besten gefällt, sind die Regeln. In dieser Welt, in der sonst alles möglich ist, gibt es wenigstens hier solide willkürliche Regeln. Der Foxtrott besteht aus zwei langsamen und zwei schnellen Schritten. Der Cha-Cha-Cha aus zwei langsamen und drei schnellen. Choreographie und Disziplin stehen nicht zur Debatte.
Das sind gute altmodische Regeln. Daran, wie man den Boxstep tanzt, ändert sich nicht jede Woche etwas.
Als wir vor zehn Jahren miteinander anfingen, hielt die Sozialarbeiterin mich nicht für einen Gauner. Zunächst war ich für sie ein Fall von Zwangsstörung. Sie hatte gerade ihr Examen gemacht und immer noch ihre Lehrbücher, mit denen sie das beweisen konnte. Zwangsgestörte, erklärte sie mir, müssten entweder ständig etwas überprüfen oder etwas sauber machen (Rachman & Hodgson, 1980). Ihr zufolge bin ich einer von der zweiten Sorte.
Eigentlich hat mir das Putzen auch so Spaß gemacht, wenngleich ich andererseits mein Leben lang zum Gehorsam erzogen worden bin. Ich habe mich bloß bemüht, ihre lausige Diagnose richtig aussehen zu lassen. Die Sozialarbeiterin erläuterte mir die Symptome, und ich tat mein Bestes, eben diese Symptome zu entwickeln, damit sie mich dann davon heilen konnte.
Nach absolvierter Zwangsstörung bekam ich eine posttraumatische Störung.
Dann litt ich unter Agoraphobie.
Und Panikattacken.
Meine Füße bewegen sich im Walzertakt, ein langsamer, zwei schnelle Schritte, über
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