Flug 2039

den anderen rüber und schiebt sie durch eine Tür, über der AUSGANG steht.
    Dann sind nur noch Fertility und ich übrig. Die Beleuchtung flackert und geht schließlich ganz aus.
    Im Dunkeln, umgeben von Rauch und tastbaren Stoffen, Satin und Samt und Seide und glatter Baumwolle, von lautem Geklingel und Kleidern und kratziger Wolle, spüre ich Fertilitys kalte Hand auf meiner und höre sie sagen: »Keine Angst.«
    Kleine grüne Rechtecke mit der Aufschrift AUSGANG leuchten durch das Dunkel.
    Die Glocken schrillen.
    »Ganz ruhig bleiben«, sagt Fertility.
    Die Glocken schrillen.
    »Jetzt kommt’s gleich«, sagt Fertility.
    Orangefarbene Blitze flackern am anderen Ende der Etage und spalten alles in seltsame gelbrote Formen vor schwarzem Hintergrund. Die Kleider und Hosen an den Ständern erscheinen als hängende Menschengestalten mit Armen und Beinen, die in Flammen ausbrechen.
    Die Umrisse von tausend brennenden und zusammenbrechenden Menschen stürzen auf uns zu. Die Glocken schrillen so laut, dass man den Lärm körperlich spürt, und nur Fertilitys kalte Hand hält mich an Ort und Stelle.
    »Gleich muss es kommen«, sagt sie.
    Ich spüre schon die Hitze. Ich schmecke schon den Rauch. Keine zehn Schritte entfernt schwelen Vogelscheuchen, Frauen aus Kleidern an Bügeln, flammen auf und sinken zu Boden. Das Atmen wird schwierig, und ich kann kaum noch die Augen aufhalten.
    Und die Glocken schrillen.
    Meine Kleider fühlen sich an wie sehr heiß gebügelt.
    So nah ist das Feuer schon.
    »Ist das nicht toll?«, sagt Fertility. »Gefällt dir das nicht?«
    Ich hebe eine Hand, die daraufhin einen kühlen Schatten zwischen meinem Gesicht und dem Ständer mit brennender Kunstseide neben uns wirft.
    Woraus sich ein Stoff zusammensetzt, erkennt man folgendermaßen: Man ziehe ein paar Fäden aus einem Kleidungsstück und halte sie über eine Flamme. Wenn sie nicht brennen, ist es Wolle. Wenn sie langsam brennen, ist es Baumwolle. Wenn sie aufflammen wie die Hosen neben uns, ist es Synthetik. Polyester. Kunstseide. Nylon.
    »Jetzt«, sagt Fertility.
    Und plötzlich, bevor ich auf den Grund dafür kommen kann, wird es kalt. Und nass. Wasser regnet herab. Das gelbrote Leuchten flackert, wird dunkler, immer dunkler, und geht schließlich aus. Der Rauch wird aus der Luft gewaschen.
    Scheinwerfer blinken auf und zeigen in riesigen schwarzweißen Schatten, was übrig ist. Das Geklingel hört auf. Das Band mit der Cha-Cha-Cha-Musik läuft wieder an.
    »Ich habe das alles in einem Traum gesehen«, sagt Fertility. »Wir sind nie wirklich in Gefahr gewesen.«
    Es ist dieselbe Geschichte wie mit ihr und Trevor auf dem Ozeandampfer, der nur halb gesunken war.
    »Nächste Woche«, sagt Fertility, »wird eine Bäckerei in die Luft fliegen. Willst du’s dir ansehen? Mein Traum sagt mir, dass es mindestens drei oder vier Tote geben wird.«
    Meine Haare, ihre Haare, meine Kleider, ihre Kleider: Nichts zeigt die geringsten Spuren von Verbrennungen.
    Daniel, Kapitel drei, Vers siebenundzwanzig:
    »… und sahen, dass das Feuer keine Macht am Leibe dieser Männer bewiesen hatte und ihr Haupthaar nicht versengt und ihre Mäntel nicht versehrt waren; ja man konnte keinen Brand an ihnen riechen.«
    Alles schon erlebt, denke ich. Alles schon getan.
    »Mach schnell«, sagt sie. »Gleich tauchen hier die Leute von der Feuerwehr auf.« Sie nimmt meine Hände in ihre und sagt: »Wir wollen diesen Cha-Cha-Cha doch nicht vergeuden.«
    Eins, zwei, cha-cha-cha. Wir tanzen, drei, vier, cha-cha-cha.
    Die Trümmer, das Gewirr der verbrannten Ärmel und Beine von Kleidungsstücken auf dem Fußboden, die herabhängende Decke über uns, aus der noch immer Wasser strömt und alles nass macht: Das alles stört uns nicht. Wir tanzen, eins, zwei, chacha-cha.
    Genau so finden sie uns schließlich.

Kapitel 32
    Nächste Woche soll eine Tankstelle explodieren. Aus einer Tierhandlung werden alle Kanarienvögel entweichen, der komplette Bestand von Hunderten von Kanarienvögeln. Fertility hat das alles in zahlreichen Träumen vorhergesehen. In einem Hotel gibt es eine undichte Wasserleitung. Seit Wochen rinnt das Wasser ins Mauerwerk, löst Mörtel, lässt Holz faulen und Metall rosten, und am nächsten Dienstag um fünfzehn Uhr und vier Minuten wird der riesige Kristallkronleuchter im Foyer von der Decke krachen.
    In ihrem Traum prasseln Bleikristallsplitter herab, dann steigen Wolken von Mörtelstaub auf. Irgendein Träger reißt einer rostigen Schraube den Kopf ab.