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Flug 2039

Flug 2039

Titel: Flug 2039 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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man jetzt überall, und man muss etwas tun, um nicht ständig in Tränen auszubrechen. Niemand lacht lauter als ich.
    »Warum ist der Credist über die Straße gekommen?«, flüstert der Witzbold.
    Vielleicht spricht er ja gar nicht zu Fertility und mir.
    »Weil keine Autos gekommen sind, die ihn überfahren konnten.«
    Hinter uns allen dröhnt der Bus, getrieben von seinem Heckmotor, der stinkfarbige Auspuffschwaden ausstößt.
    An den heutigen Witzen ist die Zeitung schuld. Weiter vorn sitzen fünf Leute, alle hinter der Morgenzeitung versteckt, und fünfmal lese ich die Schlagzeile auf der Titelseite:
    »Zahl der Kult-Überlebenden sinkt rapide.«
    In dem Artikel heißt es, die Tragödie des Massenselbstmordes der Credisten von vor zehn Jahren nähere sich nun dem Ende. Die letzten überlebenden Anhänger der Credisten-Kirche, jener Kultbewegung aus dem tiefsten Nebraska, die sich durch Massenselbstmord den Ermittlungen des FBI und landesweiter Aufmerksamkeit entzog – also, die Zeitung schreibt, dass nur noch sechs Angehörige dieser Kirche am Leben seien. Namen werden nicht genannt, aber einer aus diesem halben Dutzend muss ich selber sein.
    Der Rest des Artikels steht auf Seite 9, aber ihr versteht schon. Deutlich kann man zwischen den Zeilen lesen: Gut, dass wir die los sind!
    Kein Wort von verdächtigen Todesfällen, bei denen es sich um Mord handeln könnte. Kein Wort von einem Killer, der die letzten sechs Überlebenden der Kirche jagt.
    Hinter mir flüstert der Witzbold: »Wie nennt man einen Credisten mit blonden Haaren?«
    Im Kopf antworte ich: Tot. Die Witze kenne ich alle.
    »Wie nennt man einen Credisten mit roten Haaren?«
    Tot.
    »Mit braunen Haaren?«
    Tot.
    »Was ist der Unterschied zwischen einem Credisten und einer Leiche?«, flüstert der Typ.
    Bloß ein paar Stunden.
    »Was haben die Credisten gerufen, wenn sie auf der Straße einen Leichenwagen gesehen haben?«, flüstert der Typ.
    Taxi!
    »Woran erkennt man in einem überfüllten Bus einen Credisten?«, flüstert der Typ.
    Jemand zieht an der Klingelschnur, damit der Bus an der nächsten Haltestelle hält.
    Fertility dreht sich um und sagt: »Ruhe jetzt.« Sie wird laut genug, dass die Leute hinter ihren Zeitungen hervorsehen. Sie sagt: »Sie machen Witze über Selbstmörder, über Menschen, die von anderen Menschen geliebt wurden und jetzt tot sind. Hören Sie auf damit.«
    Sie sagt das wirklich sehr laut. Wie hell ihre Augen sind, grau, aber mit silbrigem Schimmer. Ich frage mich, ob Fertility womöglich Credistin ist oder ob sie etwa immer noch über den Tod ihres Bruders verstimmt ist. Irgendwie fällt ihre Reaktion zu heftig aus.
    Jetzt hält der Bus am Straßenrand, und der Witzbold steht auf und stellt sich in den Gang, um auszusteigen. Es ist genau wie in der Kirche, wir sitzen auf Bänken links und rechts vom Mittelgang. Der Typ steht in der Schlange der Aussteigenden. Er trägt eine weite braune Wollhose, wie sie bei dieser Hitze nur ein Überlebender tragen würde. Die für die Kirchentracht typischen Hosenträger kreuzen sich am Rücken. Die braune Wolljacke hält er gefaltet im Arm. Er schlurft langsam durch den Gang nach vorn, bleibt kurz stehen, während andere Leute vor ihm aussteigen, dreht sich um und tippt dann leicht gegen den Rand seines Strohhuts. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, aber das ist alles schon so lange her. Er riecht nach Schweiß und Wolle und Stroh und Bauernhof.
    Woher ich ihn kenne, weiß ich nicht mehr. Aber an seine Stimme erinnere ich mich. Seine Stimme, nur seine Stimme: über meine Schulter, in mein Telefon.
    Mögest du sterben, sobald deine Arbeit vollendet ist.
    Sein Gesicht ist das Gesicht, das ich im Spiegel sehe.
    Ohne nachzudenken sage ich seinen Namen.
    Adam. Adam Branson.
    »Kenne ich Sie von irgendwoher?«, fragt der Witzbold.
    Aber ich antworte mit Nein.
    Die Schlange rückt weiter vor und zieht ihn von mir fort, da fragt er: »Sind wir nicht zusammen aufgewachsen?«
    Und ich antworte mit Nein.
    Er steht in der Bustür und ruft: »Bist du nicht mein Bruder?«
    Und ich rufe: Nein.
    Dann ist er weg.
    Lukas, Kapitel zweiundzwanzig, Vers vierunddreißig:
    »Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe denn du dreimal verleugnet hast, dass du mich kennest.«
    Der Bus fährt wieder an.
    Es gibt für den Typen nur ein Wort: hässlich. Verrückt. Leicht übergewichtig. Ein Versager. Bestenfalls jämmerlich. Ein Opfer. Mein drei Minuten älterer Bruder. Ein Credist.
    Die psychologischen Lehrbücher

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