Flug 2039
gebracht. Es war an der Zeit, Unruhe zu stiften.
Also mixte ich mir noch ein paar Daiquiris, rief die Polizei an und erklärte, man brauche sich nicht zu beeilen, von hier würde keiner mehr weglaufen.
Dann rief ich den Agenten an.
Die Wahrheit ist, dass es immer jemanden gab, der mir sagte, was ich tun sollte. Die Kirche. Die Leute, für die ich arbeite. Die Sozialarbeiterin. Die Vorstellung, allein zu sein, kann ich nicht ertragen. Den Gedanken, frei zu sein, kann ich nicht aushalten.
Der Agent sagte, ich solle dranbleiben und erst einmal bei der Polizei meine Aussage machen. Sobald ich gehen könne, werde er mir ein Auto schicken. Eine Limousine.
Meine schwarzweißen Aufkleber kleben immer noch überall in der Stadt und sagen den Leuten:
Gib dir und deinem Leben noch eine letzte Chance. Ruf mich an, ich kann dir helfen. Dann meine Telefonnummer.
Nun, alle diese verzweifelten Menschen handelten auf eigene Verantwortung.
Die Limousine werde mich zum Flughafen bringen, hatte der Agent gesagt. Das Flugzeug werde mich nach New York bringen. In New York sei bereits ein Team von Leuten – von Leuten, die mich noch nie gesehen hätten und die absolut nichts von mir wüssten – damit beschäftigt, meine Autobiographie zu schreiben. Der Agent sagte, die ersten sechs Kapitel werde man mir bereits in der Limousine vorlegen, damit ich meine Kindheit schon mal auswendig lernen könne, bevor es an die ersten Interviews gehe.
Ich sagte dem Agenten, meine Kindheit sei mir bereits bekannt.
Er sprach aus dem Hörer: »Diese Version ist besser.«
Version?
»Für den Film haben wir sogar eine noch geilere Version.« Der Agent fragt: »Und? Wen hätten Sie gern für sich?«
Ich will ich sein.
»Ich meine, in dem Film.«
Ich bitte ihn zu warten. Schon zeigte sich das Berühmtsein als Freiheitsbeschränkung und Erweiterung von Pflichten, die mir noch mehr Entscheidungen und jede Menge Arbeiten auferlegte. Kein tolles Gefühl, aber ein vertrautes.
Dann standen die Polizisten vor der Tür, und dann waren sie im Arbeitszimmer bei der toten Sozialarbeiterin, fotografierten sie von allen Seiten und baten mich, meinen Drink wegzustellen, damit sie mir Fragen zur vergangenen Nacht stellen konnten.
Und da habe ich mich im Bad eingeschlossen und bekam das, was die psychologischen Lehrbücher als plötzliche existentielle Krise bezeichnen würden.
Mein Arbeitgeber ruft aus seiner Restauranttoilette an und fragt wegen dieses Palmherzensalats nach, und damit ist mein Tag so ziemlich abgeschlossen.
Leben oder sterben?
Ich verlasse das Bad und gehe an den Polizisten vorbei schnurstracks zum Telefon. Dem Mann, für den ich arbeite, erkläre ich, er soll die Salatgabel nehmen. Die Palmherzen einzeln aufspießen. Mit den Zinken nach unten. Das Palmherz zum Mund heben, den Saft aussaugen. Und es dann in die Brusttasche seines zweireihigen Brooks-Brothers-Nadelstreifenjacketts stecken.
»Verstanden«, sagt er. Und damit ist mein Job in seinem Haus beendet.
In einer Hand halte ich das Telefon, mit der anderen gebe ich der Polizei ein Zeichen, in die nächste Runde Daiquiris etwas mehr Rum zu tun.
Der Agent erzählt mir, dass ich mich um Gepäck nicht zu kümmern brauche. In New York stelle eine Stylistin bereits eine ganze Garderobe gut verkäuflicher religiöser Freizeitkleidung aus reiner Baumwolle im Sackleinenstil zusammen, für die ich Werbung machen solle.
Gepäck erinnert mich an Hotels erinnern mich an Kronleuchter erinnern mich an Katastrophen erinnern mich an Fertility Hollis. Sie ist das Einzige, das ich zurücklasse. Nur Fertility weiß etwas über mich, wenn auch nicht sehr viel. Mag sein, dass sie meine Zukunft kennt, aber meine Vergangenheit kennt sie nicht. Niemand kennt jetzt meine Vergangenheit.
Außer vielleicht Adam.
Beide zusammen wissen also über mein Leben mehr als ich selbst.
Laut meinem Reiseplan, sagt der Agent, wird das Auto in fünf Minuten eintreffen.
Es ist an der Zeit weiterzuleben.
Es ist an der Zeit, von neuem anzutreten.
In der Limousine sollte eine dunkle Sonnenbrille bereitliegen. Ich möchte eindeutig inkognito reisen. Ich verlange schwarze Ledersitze und getönte Scheiben. Ich sage dem Agenten, dass ich am Flugplatz einen Menschenauflauf wünsche, der meinen Namen ruft. Ich verlange weitere Mixgetränke. Ich verlange einen persönlichen Fitnesstrainer. Ich will fünfzehn Pfund abnehmen. Ich verlange dichteres Haar. Meine Nase soll kleiner wirken. Ich will Zahnkronen. Ein gespaltenes
Weitere Kostenlose Bücher