Flug 2039
Sozialarbeiterin.
Zwischen ihrer schwarzen Caprihose und den kurzen weißen Socken und den roten Stoffschuhen leuchten weiß und glatt ihre Wadenmuskeln; und alles, was früher rot an ihr war, ist jetzt blau, ihre Lippen, ihre Nagelhaut, ihre Augenränder.
Die Wahrheit ist: Ich habe die Sozialarbeiterin nicht umgebracht, bin aber froh, dass jemand es getan hat.
Sie war meine einzige Verbindung zu den letzten zehn Jahren. Sie war das letzte Bindeglied zu meiner Vergangenheit.
Die Wahrheit ist, dass man immer und immer wieder zur Waise werden kann.
Und genau so ist es auch.
Und das Geheimnis ist, dass es jedes Mal ein bisschen weniger wehtut, so lange, bis man gar nichts mehr empfindet.
Das könnt ihr mir glauben.
Als sie da nach unseren zehn Jahren intimer wöchentlicher Unterhaltungen tot vor mir auf dem Boden lag, war mein erster Gedanke: Wieder etwas, was ich wegräumen muss.
Die Polizei fragt durch die Badezimmertür, warum ich, bevor ich sie gerufen habe, erst noch ein Tablett voll Erdbeer-Daiquiris gemacht habe.
Weil die Himbeeren ausgegangen sind.
Weil es, verstehen Sie das denn nicht, doch gar keine Rolle spielt. Die Zeit hat doch nicht gedrängt.
Stellt euch das als wertvolle praktische Ausbildung vor. Das Leben als ein übler Scherz.
Wie nennt man eine Sozialarbeiterin, die ihren Job hasst und alle ihre Klienten verliert?
Tot.
Wie nennt man den Polizisten, der sie in einen großen Plastiksack steckt und den Reißverschluss zuzieht?
Tot.
Wie nennt man den Fernsehreporter, der im Vorgarten live in die Kamera spricht?
Tot.
Es spielt keine Rolle. Der Witz ist, dass wir alle dieselbe Pointe haben.
Der Agent wartet auf Leitung eins mit einem Angebot, das nur so aussieht wie eine ganz neue Zukunft.
Der Mann, für den ich arbeite, schreit aus dem Lautsprecher, er sei bei einem Geschäftsessen in irgendeinem Restaurant. Er rufe jetzt also mit seinem Handy aus der Toilette an, weil er nicht wisse, wie man Palmherzensalat esse. Als ob das wirklich wichtig wäre.
He, schreie ich zurück. Ich auch.
Soll heißen, dass auch ich mich auf der Toilette verstecke.
Es ist ein schrecklich angenehmes Gefühl, wenn der einzige Mensch, der alle deine Geheimnisse kennt, endlich tot ist. Deine Eltern. Dein Arzt. Dein Therapeut. Deine Sozialarbeiterin. Die Sonne vor dem Badezimmerfenster versucht uns zu zeigen, dass wir alle dumm sind. Man muss sich nur mal umsehen.
In der Kirchenkolonie wird einem beigebracht, dass man nichts begehren soll. Den Kopf immer leicht gesenkt halten. Immer demütig und bescheiden auftreten. Mit leiser Stimme sprechen.
Und seht euch nur an, als wie gut sich diese Anschauung erwiesen hat.
Sie sind tot. Ich lebe. Die Sozialarbeiterin ist tot. Alle sind sie tot.
Ich schließe meinen Beweisantrag.
Hier im Bad finde ich Rasierklingen. Zum Trinken steht Jod bereit. Schlaftabletten, die ich schlucken kann. Du hast die Wahl. Leben oder sterben.
Jeder Atemzug ist eine Möglichkeit.
Jede Minute ist eine Möglichkeit.
Sein oder nicht sein.
Jedes Mal, bei dem du dich nicht die Treppe runterschmeißt, ist das eine Entscheidung. Jedes Mal, bei dem du dein Auto nicht zu Schrott fährst, trittst du von neuem an.
Wenn ich mich von dem Agenten berühmt machen lasse, wird sich nichts Wesentliches ändern.
Wie nennt man einen Credisten, der eine eigene Talkshow bekommt?
Tot.
Wie nennt man den Credisten, der in einer Limousine herumkutschiert und Steaks isst?
Tot.
Egal, welche Richtung ich einschlage, zu verlieren habe ich jedenfalls nichts.
Laut meinem Terminkalender sollte ich jetzt Zink im Kamin verbrennen, um den Schornstein von Ruß zu reinigen.
Vor dem Badezimmerfenster schaut die Sonne zu, wie die Polizisten die in ihrem Plastiksack auf eine Rollbahre geschnallte Sozialarbeiterin die Einfahrt hinunter zu einem Krankenwagen schieben, dessen Blinklicht nicht eingeschaltet ist.
Nachdem ich sie gefunden hatte, stand ich lange Zeit über der Leiche, trank meinen Erdbeer-Daiquiri und sah sie, wie sie da blau und mit dem Gesicht nach unten dalag. Das war seit langem abzusehen gewesen, dazu musste man keine Fertility Hollis sein. Ihr schwarzes Haar quoll unter dem roten Stirnband hervor, das sie um ihren Kopf trug. Aus ihrem toten Mundwinkel war etwas Speichel auf den Boden getropft. Ihr ganzer Körper sah aus wie in tote Haut gehüllt.
Man hätte von Anfang an wissen können, dass es so kommen würde. Eines Tages geht es uns allen so.
Korrektes Benehmen hätte jetzt nichts mehr
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