Flug 2039
Stockwerk hinaus, tritt man in einen mystischen Zustand ein.
Du erkennst, dass es dasselbe ist, als wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand da ist, der das Geräusch hört. Wenn niemand dabei gewesen wäre, die Leiden Christi mitzuerleben: Wären wir dann erlöst?
Der Schlüssel zum Heil ist die Aufmerksamkeit, die du auf dich ziehst. Dein Persönlichkeitsprofil. Dein Marktanteil. Die Häufigkeit deiner Auftritte. Der Bekanntheitsgrad deines Namens. Deine Presse.
Die Meute.
Im hundertsten Stock scheitelt dir der Schweiß überall die Haare. Die langweilige Mechanik deiner Körperfunktionen ist nur allzu klar, deine Lunge saugt Luft ein, um sie dir ins Blut zu verfrachten, dein Herz pumpt Blut zu deinen Muskeln, deine Kniesehnen ziehen sich zusammen, verkrampfen sich, um deine Beine hinter dir herzuziehen, dein Quadrizeps spannt sich, um deine Knie nach vorn zu bringen. Das Blut liefert Luft und Brennstoff an das Mito-Dingsbums, das du in jeder einzelnen Muskelzelle hast.
Das Skelett ist nur dazu da, dass das Körpergewebe nicht einfach auf den Boden fällt. Der Schweiß ist dazu da, dass du schön kühl bleibst.
Die Offenbarungen fliegen dir aus allen Richtungen zu.
Im hundertfünften Stock erscheint es dir unglaublich, dass du der Sklave dieses Körpers bist, dieses großen Babys. Du musst ihn füttern und ins Bett bringen und aufs Klo setzen. Du kannst nicht glauben, dass wir noch nichts Besseres erfunden haben. Etwas, was nicht so hilflos ist. Nicht so zeitaufwändig.
Du erkennst, dass Leute Drogen nehmen, weil dies das einzige echte individuelle Abenteuer ist, das ihnen in ihrer zeitknappen, rundum reglementierten, umzäunten Welt geblieben ist.
Nur in Drogen oder im Tod sehen wir noch etwas Neues, aber der Tod ist einfach zu autoritär.
Du erkennst, dass es keinen Sinn hat, etwas zu tun, wenn niemand dabei zusieht.
Du fragst dich: Hätte man die Kreuzigung verschoben, wenn die Zuschauerzahl zu niedrig gewesen wäre?
Du erkennst, dass der Agent Recht hatte. Nie hast du ein Kruzifix mit einem Jesus gesehen, der nicht fast nackt war. Nie hast du einen fetten Jesus gesehen. Oder einen Jesus mit Körperbehaarung. Der Jesus an allen Kreuzen, die du jemals gesehen hast, kann sich sehen lassen und könnte genauso gut als Model für Designerjeans oder Herrenparfüm auftreten.
Das Leben ist in jeder Beziehung so, wie der Agent es beschrieben hat. Du erkennst, wenn niemand zusieht, kannst du ebenso gut zu Hause bleiben. Mit dir selber spielen. Vor der Glotze hocken.
Im hundertzehnten Stock wird dir klar, wenn es dich nicht auf Video gibt, oder besser noch, wenn du nicht live per Satellit vor die Augen der ganzen Welt gebracht wirst, existierst du gar nicht.
Dann bist du der Baum, der im Wald umfällt, und kein Schwein interessiert sich dafür.
Es spielt keine Rolle, ob du etwas tust. Wenn niemand es mitbekommt, ist die Summe deines Lebens eine dicke Null. Nichts. Nada.
Falsch oder nicht, es sind große Wahrheiten dieser Art, die dir durch den Kopf schwirren.
Du erkennst, unser Argwohn gegen die Zukunft macht es uns schwer, die Vergangenheit aufzugeben. Wir können auf das Bild von dem, was wir einmal waren, nicht verzichten. Alle diese Erwachsenen, die auf Flohmärkten zu Archäologen werden und nach Gegenständen aus ihrer Kindheit suchen, nach Brettspielen, Fang-den-Hut und Spitz-pass-auf, sie alle haben Angst. Müll wird zu heiligen Reliquien. Spielzeugautos. Hula-Hoop-Reifen. Dass Dinge, die wir eben erst in die Mülltonne geworfen haben, in uns nostalgische Gefühle wecken, kommt nur daher, dass wir Angst haben, uns weiterzuentwickeln. Zu wachsen, uns zu verändern, abzunehmen, uns neu zu definieren. Uns anzupassen.
Genau das sagt mir der Agent auf dem StairMaster. Er schreit: »Passen Sie sich an!«
Alles wird schneller, nur ich nicht, ich und mein verschwitzter Körper mit seinem Stuhlgang und seiner Körperbehaarung. Meine Leberflecken, meine gelben Zehennägel. Und ich erkenne, ich werde meinen Körper nicht los, und schon gerät er aus den Fugen. Mein Rückgrat fühlt sich an wie aus heißem Eisen geschmiedet. Meine Arme schlenkern dünn und nass an mir herum.
Beständig ist nur der Wechsel, und da fragt man sich, ob die Leute nur deswegen den Tod ersehnen, weil er die einzige Möglichkeit bietet, etwas wirklich zu Ende zu bringen.
Der Agent schreit, egal, wie großartig du aussiehst, dein Körper ist bloß ein Anzug, den du trägst, um dir den Oscar abzuholen.
Deine Hände hast du nur,
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