Flug 2039
Tender-Branson-Predigt-Sender. Da laufen tausend Reden, die ich in irgendeinem Studio, wo, weiß ich nicht mehr, aufgezeichnet habe.
Die Kirchenältesten der Credisten haben uns unaussprechlich missbraucht, sage ich im Radio.
»Erinnerst du dich daran, was sie dir angetan haben?«, sagt Adam.
Im Radio sage ich: Unablässig missbraucht.
»Ich meine, als du noch ein Kind warst«, sagt Adam.
Draußen holte uns die Sonne allmählich ein und ließ allerlei Formen aus der totalen Dunkelheit hervortreten.
Im Radio sage ich: Bei der totalen Kontrolle, die über unser Denken ausgeübt wurde, hatten wir nie eine Chance. Keiner von uns wäre in der Außenwelt auf die Idee gekommen, nach Sex zu verlangen. Nie hätten wir die Kirche verraten. Wir haben unser gesamtes Leben mit Arbeit verbracht.
»Und wer niemals Sex hat«, sagt Adam, »kann nie das Gefühl von Macht entwickeln. Man entwickelt weder eine eigene Stimme noch eine eigene Identität. Sex ist das, was uns von unseren Eltern loslöst. Kinder von Erwachsenen. Die erste Rebellion der Jugend ist der sexuelle Akt.«
Und wenn du niemals Sex hast, erklärt mir Adam, kannst du auch alles andere, was deine Eltern dir eingetrichtert haben, nicht hinter dir lassen. Wenn du die Regel, die dir Sex verbieten will, nicht brichst, wirst du auch keine andere Regeln brechen.
Im Radio sage ich: Die Menschen in der Außenwelt werden sich kaum vorstellen können, wie umfassend wir gedrillt wurden.
»Am Chaos der Sechzigerjahre war nicht der Vietnamkrieg schuld«, sagt Adam. »Und auch nicht die Drogen. Sondern ein Medikament. Die Antibabypille. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte konnten alle so viel Sex haben, wie sie wollten. Plötzlich haben alle über diese Macht verfügt.«
Alle mächtigen Herrscher der Geschichte waren durch die Bank sexsüchtig. Und er fragt: Kommt ihre sexuelle Gier von ihrer Macht, oder kommt ihr Wille zur Macht von ihrer sexuellen Gier?
»Und wenn du nicht nach Sex gierst«, sagt er, »wirst du dann nach Macht gieren?«
Nein, sagt er.
»Und statt anständige, langweilige, sexuell unterdrückte Beamte zu wählen«, sagt er, »sollten wir uns vielleicht lieber für die geilsten Kandidaten entscheiden. Vielleicht würden die mal was gebacken kriegen.«
Ein Schild schwebt vorbei: Tender-Branson-Deponie für Prekäres Material, 10 Meilen.
»Kapierst du, worauf ich hinaus will?«, sagt Adam.
Nur noch zehn Minuten bis nach Hause.
»Du musst dich doch an das erinnern, was da passiert ist«, sagt Adam.
Nichts ist passiert.
Im Radio sage ich: Es ist mit Worten nicht zu schildern, wie schrecklich wir missbraucht wurden.
Links und rechts am Straßenrand flattern immer mehr Fetzen von Pornomagazinen herum, die von offenen Lastwagen geweht wurden. Verblassende Aktfotos von schönen Frauen wickeln sich um einen Baumstamm nach dem anderen. Vom Regen aufgeweichte Männer mit langen dunkelroten Erektionen hängen schlaft in den Zweigen. Schwarze Videokassetten liegen im Kies neben der Straße. Eine geplatzte Frau aus rosa Plastik treibt im Gras, und der Fahrtwind zerrt ihr an Haaren und Händen, während wir vorbeirauschen.
»Sex ist weder schrecklich noch abscheulich«, sagt Adam.
Im Radio sage ich: Am besten lasse ich die Vergangenheit einfach hinter mir und wende mich dem Leben zu.
Vor uns wird die Stelle sichtbar, von der ab keine Bäume mehr an der Straße stehen. Dahinter ist nichts. Die Sonne ist aufgegangen, sie überholt uns schon, und vor uns liegt nur noch ödes Land.
Ein Schild schwebt vorbei: Willkommen auf der Tender-Branson-Deponie für Prekäres Material.
Wir sind zu Hause.
Hinter dem Schild erstreckt sich bis zum Horizont das Tal, kahl, übersät mit Müll und vollständig grau bis auf ein paar knallgelbe Bulldozer, die dort untätig herumstehen, weil Sonntag ist.
Kein einziger Baum.
Kein einziger Vogel.
Das einzige Gebäude dort steht im Zentrum des Tals, ein gewaltiger Turm aus Beton, eine quadratische graue Säule genau an der Stelle, an der früher das Bethaus der Credisten stand, das Haus, in dem sie alle tot aufgefunden wurden. Vor zehn Jahren. Überall auf der Erde um uns her liegen Bilder von Männern mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männern mit Männern, Männern und Frauen mit Tieren und irgendwelchen Gegenständen.
Adam sagt kein Wort.
Im Radio sage ich: Mein Leben ist jetzt voller Freude und Liebe.
Im Radio sage ich: Ich freue mich auf die Hochzeit mit der Frau, die im Rahmen der Genesis-Kampagne für mich
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