Flugasche
zwischen Himmel und Erde stand. Die Leute standen krumm vor Regen und Nässe. Manche hatten einen Schirm, unter den der Wind sich setzte und ihn immer wieder umstülpte. Josefa kniete im Bett, fest in eine Decke gehüllt, sah, bis sie vor Müdigkeit in die Kissen fiel, auf die frierenden Menschen, überwältigt von dem Bewußtsein, selbst nicht zu frieren. Nur angesichts der durchnäßten und durchfrorenen Leute auf der Straße fühlte sie genau, was Wärme war. Manchmal hoffte sie auf Regen und Schneesturm für dieses Gefühl, das sie nur heimlich und nie ohne schlechtes Gewissen genoß.
Später, als Erwachsene, hatte sie noch ein paarmal versucht, das Spiel zu wiederholen, hatte, eingepackt in warme Decken, die Frierenden beobachtet und dabei das Gefühl behaglicher Sicherheit in sich beschworen. Aber mehr als die zufriedene und sehr praktische Feststellung, daß sie nicht im Regen oder in der Kälte stand, sondern es geschafft hatte, rechtzeitig in ihre Höhle zu fliehen, stellte sich nie mehr ein. Die Szene hatte ihr Mystisches verloren.
An diesem Sonnabend, als sich in Josefas betäubtem Kopf Geräusche und Empfindungen grotesk verzerrten, klang ihr das Dröhnen des Regens nur bedrohlich, ein nicht ermüdender Ansturm auf dünne Häuserwände, hinter denen sie Schutz gesucht hatten. Draußen die Sintflut, und jeder hoffte auf seiner Arche. Tausend Archen, dreitausend, zehntausend, eine Archenzivilisation, auf jeder Arche ein Mensch, verloren, zum Aussterben verurteilt.
Am Nachmittag kam Christian.
Der Sohn setzte sich auf Josefas Bauch, hielt ihr abwechselnd die Nase zu oder zerrte mit seinen kleinen Fingern an ihren Augenlidern. »Wach auf«, krähte er, »wach auf. Christian ist da. Jetzt mußt du kochen.«
Josefa wußte nicht, warum das Kind am frühen Morgen schon angezogen war und warum sie um diese Zeit kochen sollte.
»Wie spät ist es?« fragte sie.
»Halb fünf.«
Christian musterte sie mißtrauisch. Wahrscheinlich lallte sie wie betrunken. Scheußliches Zeug. Allmählich fielen ihr der Hammel ein und die Klöße und das Telefongespräch. Sie war zu müde, um wütend zu werden, rollte sich mit dem Gesicht zur Wand, um wieder einzuschlafen.
»Komm, steh auf«, sagte Christian.
»Ich steh nicht auf«, lallte Josefa, »ich steh nie mehr auf, wenn es regnet. Wenn es regnet, bleib ich im Bett.«
Sie zog sich die Decke über den Kopf. Das Sprechen strengte sie an. Erst am Abend war sie wieder zu sich gekommen, der strenge Geruch von Hammelfleisch und Bohnenkraut hatte sie geweckt. Der Sohn verteilte die Bestecks und wiederholte dabei ständig zwei Sätze: Schön leise sein. Sonst wacht die Mama auf. Schön leise sein. Sonst wacht die Mama auf.
Josefa stand auf, ging leise, um Christian nicht auf sich aufmerksam zu machen, über den Korridor ins Bad. Sie sah in den Spiegel: trübe, vom langen Schlafen verschwollene Augen, eine hellgelbe, ungesunde Haut. Sie hielt sich die Dusche ins Gesicht. Das kalte Wasser lief ihr in Mund und Augen. Ihre Haut fühlte wieder. Josefa überlegte, was sie Christian erklären sollte. Am besten vielleicht gar nichts. Sie hatte am Nachmittag eben geschlafen, was war schon dabei. Sie zog sich an, versuchte mit Hilfe allerlei kosmetischen Krimskrams Ordnung in ihr Gesicht zu bringen. Zum Schluß lächelte sie in ihr Spiegelbild, Lächeln kaschierte noch am ehesten die verschlafene Schlaffheit.
Christian hatte das Bett weggeräumt und das Fenster weit geöffnet. Es regnete nicht mehr, und kühle, klare Luft strömte ins Zimmer. Während des Essens sprach Christian nur mit dem Kind, und Josefa war froh über die gewonnene Zeit, in der sie sich eine Erklärung zurechtlegen konnte, denn später würde Christian sie fragen, und sie würde nicht umhinkommen, ihm eine plausible Antwort zu geben. Sie könnte sagen, sie hätte Kopfschmerzen oder Zahnschmerzen gehabt und hätte versehentlich statt der Schmerztabletten die Schlaftabletten gegriffen. Das klang glaubhaft. Oder sie sagte, sie hätte nachts nicht geschlafen … nein, dann hätte sie am Tag keine Tabletten gebraucht. Sie erwog sogar, ihm zu sagen, wie es wirklich war: daß sie das Warten auf ihn nicht mehr ertragen konnte und daß sie manchmal wünschte, tot zu sein, nicht zu sterben, davor fürchtete sie sich, aber tot zu sein, gar nicht gelebt zu haben, nichts verlassen zu müssen, weil sie nichts kannte. Sie hatte den Gedanken schnell wieder aufgegeben, ohne recht zu wissen, warum sie ihm die Wahrheit nicht zumuten
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