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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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ein. Sie dachte nicht gern daran. Fünf Jahre hatten sie begraben unter Beschimpfungen, aufgerechneter Schuld, Ekel. Der Streit um die Bücher, Möbel, zum Schluß um ein Küchenmesser für zwei Mark dreißig. Ein halbes Jahr lang hatten sie sich belauert, um nur den Augenblick nicht zu verpassen, in dem der andere die Deckung vergaß und sich preisgab in seiner Verletzbarkeit. Seitdem kannte sie ihre Fähigkeit zur Wut, zur primitiven Gemeinheit, und fürchtete sie. »Besteht nicht unser ganzer Sinn darin«, fragte sie, »daß wir uns gegenseitig raushalten aus unserer Wut, du mich und ich dich? Wenigstens für einen Menschen der sein, der man sein will, wenn man es schon nicht für alle schafft?«
    »Das wäre schön«, sagte Christian, und Josefa sah, daß er dabei einen flüchtigen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk warf. »Ich befürchte nur, die Versuchung, gerade den Angreifbarsten und Wehrlosesten zu wählen, ist zu groß. Es verringert den Aufwand, es bereitet sogar Lust, verstehst du, ich finde es so schlimm wie du. Aber es ist so, bei den meisten ist es so.«
    »Bei dir auch?« fragte sie leise.
    »Es kommt vor«, sagte Christian ausweichend. Er hatte es eilig zu gehen, trieb auch Josefa an, »mach schnell, sonst kommen wir zu spät«.
    Unterwegs sprachen sie wenig, der Motor des alten Autos heulte gleichzeitig in allen Tonlagen, und sie hätten schreien müssen, um sich zu verständigen.
    Abends rief Chrisitan an, er käme spät, sie solle nicht auf ihn warten. Josefa vergaß das Gespräch.
    Sie hatte es vergessen wollen. Sie hatte die Bedrohung, die für sie von dem Gespräch ausgegangen war und die sie empfunden hatte, nicht wahrhaben wollen. Jetzt, da kein Plan mehr für sie galt, kein fremder mehr und noch kein eigener, fiel es ihr wieder ein, erinnerte sie jeden Satz und jede Szene ihres Traums, und sie wunderte sich, wie genau sie schon vor einigen Wochen hätte wissen können, was ihr und Christian geschehen würde. Aber selbst als Christian seltener kam, um, wie er sagte, an seiner Dissertation zu arbeiten, mit der er in Verzug geraten sei, hatte sie keinen Gedanken an dieses Gespräch zugelassen, war ihr nie eingefallen, daß er ihr eine Antwort schuldete, vor der sie Angst hatte.
    Was hätte sie vor zwei Wochen angefangen mit der Antwort, die sie inzwischen kannte, ohne daß Christian sie ihr gesagt hatte? Welchen Weg hätte es noch gegeben, der vorbeigeführt hätte an diesem Tag, den sie im Bett verbrachte, weil nichts sie mehr etwas anging, oder auch, weil sie die anderen nichts mehr anging.
    Sie dachte an die trostlosen Abende ohne Christian, wenn Strutzer und die Illustrierte Woche das einzige waren, das ihren Tag ausmachte. Strutzer bei Dienstschluß und Strutzer am nächsten Morgen bei Dienstbeginn. Dazwischen nichts. Nur das schlechte Gewissen gegenüber dem Sohn, dessen schrille Stimme sie nicht aushielt, den sie häufig anschrie, ihn abwies, wenn er ihr ein Lied vorsingen wollte, das er gerade gelernt hatte, oder dem sie unter dem Vorwand von Kopfschmerzen die Geschichte vorenthielt, die er vor dem Einschlafen gewöhnt war. Sie brachte ihn früher als gewöhnlich ins Bett, und wenn endlich Ruhe war, blätterte sie ohne sonderliches Interesse in einem Buch, schaltete sich lustlos von einem Fernsehprogramm ins andere. Sie machte sich Vorwürfe wegen ihrer Ungeduld gegenüber dem Kind, das aber inzwischen schlief und an dem sie gern am gleichen Tag noch etwas gutgemacht hätte.
    Sie saß im Sessel, die Beine angezogen, das Kinn auf die Knie gestützt, träumte, wartete auf ein Klingeln des Telefons oder auf ein Klopfen an der Wohnungstür. Wenn es wirklich klingelte, schreckte sie zusammen, um danach, weil es nicht Christian war, der angerufen hatte, wieder von der gleichen Unruhe befallen zu werden. Bis ihr die Spannung und das sinnlose Warten auf das Ende des Abends unerträglich wurden und sie zwei Tabletten aus dem Glasröhrchen nahm, auf dessen Etikett »barbituratfreies Schlafmittel« stand.
    Sie mochte das Zeug nicht. Der Eingriff in ihr Gehirn war ihr unheimlich. Jede ihrer Bewegungen wurde ihr fremd, Arme und Beine wie nicht zu ihr gehörig. Und die Sekunde, in der sie einschlief, die sie genau wahrnahm. Ein jähes Absinken in schwindelnde Tiefe, aus der sie jedesmal noch einmal auftauchte mit schnellem Herzklopfen, weil sie glaubte zu sterben. Erinnern an die grünen Tücher und die schwarze Maske, die Injektion. Tot. Aber nicht tot. Sie beruhigte sich. Es war nur das Zeug.

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