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Flugrausch

Flugrausch

Titel: Flugrausch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garry Disher
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»Ankerleiche von Flinders« genannt. Unglücklicherweise war dieser Name allen im Gedächtnis geblieben, und nun nannte selbst Challis sie so.
    Sie war vor etwa sechs Monaten von einem Fischer aus Flinders gefunden worden. Als der Fischer seinen Anker einholen wollte, fiel ihm das ungewöhnliche Gewicht auf. Er hievte ihn weiter an Bord und entdeckte einen zweiten Anker, der sich in den Flügeln seines eigenen Ankers verfangen hatte. Doch der allein machte noch nicht das zusätzliche Gewicht aus. An diesem zweiten Anker hing eine Leiche – sie war angegurtet, ein Unfall war das also nicht.
    Der Fischer rief über Handy die Polizei an und dümpelte eine Stunde lang im Meer vor der Bushrangers Bay, bis eine Polizeibarkasse eintraf und den Fall übernahm.
    Keiner kannte den Toten. Challis sah die Leiche, bevor der Rechtsmediziner an ihr herumsägte. Das Fleisch war schwammig, aufgedunsen und fiel wie bei einem gekochten Huhn fast von den Knochen. Nur die Fingerspitzen des rechten Daumens und Zeigefingers waren noch brauchbar, zwar aufgeweicht und schrumplig, doch das Labor hatte Flüssigkeit unter die Haut spritzen und sie so weit dehnen können, dass man brauchbare Fingerabdrücke nehmen konnte. Keinerlei Übereinstimmung mit dem nationalen Register. Als sich der Eindruck verstärkte, dass die Zähne möglicherweise im Ausland behandelt worden waren, hatte Challis es über Interpol versucht, über den Home Office National Computer in Großbritannien und übers FBI.
    Nichts.
    Die Kleidung – Jeans, T-Shirt, Unterwäsche und Nikes – war in asiatischen Billiglohnbetrieben für den australischen Markt hergestellt worden. Zu kaufen gab es sie an jeder Straßenecke.
    Der Mann war Mitte dreißig gewesen. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen, bevor er ins Wasser geworfen worden war; mehr wusste Challis nicht. Der Mann wies zudem Stichwunden in der Bauchgegend auf, aber die Todesursache war Ertrinken, wie der Rechtsmediziner feststellte, dem das viele Salzwasser in der Lunge auffiel. Der Schlag gegen den Kopf? Möglicherweise sollte der das Opfer betäuben. Die Stichwunden? Vielleicht, um so dafür zu sorgen, dass die Verwesungsgase entwichen und die Leiche unter Wasser blieb.
    Der Schlag war möglicherweise mit eben jenem Anker ausgeführt worden, mit dem die Leiche auf den Grund sank, vermerkte der Rechtsmediziner in seinem Bericht, nachdem er die Form des Abdrucks im Schädel mit dem Ankerschaft verglichen hatte. Mit dem Anker sollte der Körper unter Wasser gehalten werden, bis die Fische die Knochen sauber geputzt hatten. Glücklicherweise war der Fischer zwei oder drei Tage später an der Stelle vorbeigekommen. Oder auch unglücklicherweise, denn das Opfer zu identifizieren und mögliche Täter zu finden bereitete Challis massive Kopfschmerzen.
    Zumindest der Anker verriet Challis ein paar Dinge: Die Leiche war versenkt, nicht über eine Klippe geworfen worden, und das ersparte ihm die Mühe, die mögliche Abdrift der Leiche aufgrund der Gezeiten und der Küstenlinie schätzen zu müssen.
    Und da war noch etwas. Das Opfer trug eine Rolex Oyster. Silber, mit Gliederarmband. Nicht gerade die teuerste Rolex, aber echt, keine Fälschung aus Singapur oder Bangkok für zehn Dollar. Falls die Rolex auf ein gewisses gesellschaftliches oder finanzielles Niveau hindeutete, dann war dies der einzige Hinweis darauf. An der Kleidung und an den Nikes war dies jedenfalls nicht abzulesen.
    Challis marschierte weiter, und die Ankerleiche ging ihm im Kopf herum wie eine schimmernde Erscheinung, die sich eines Tages klar zeigen, Stofflichkeit annehmen und ihm die Geschichte ihrer letzten Tage und Minuten erzählen würde, bevor sie zum Sterben ins Wasser geworfen worden war.
    Auf dem grasbewachsenen Hang oberhalb des Pfades konnte Challis Kängurus grasen sehen. Er nickte einer jungen Familie zu, trat beiseite, um ihnen Platz zu machen, und fragte sich, wie er sich entscheiden sollte, wenn er an der Weggabelung an der Spitze der Klippe oberhalb der Bucht angekommen war. Zum Strand hinuntergehen und mit den Elementen plaudern, in der Hoffnung, den Fall zu lösen? Weiter in Richtung Cape Schank gehen und darauf hoffen, Tessa zu begegnen?
    Langsam setzte die Abenddämmerung ein. Challis konnte Lichter auf dem Wasser und die Lichter von Phillip Island am Horizont erkennen. Vom Meer her kam ein kühler Herbstwind. Challis zog den Reißverschluss seiner Windjacke zu. Er war hungrig, müde, verfroren, deprimiert – und all dies wegen

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