Flurfunk (German Edition)
auch ein Plakat halten darf und später schwul wird«, lästerte Tim.
»Woher willst du denn das bitte wissen?«
»Na, weil ich früher dieser Junge war. Das ist wie in der Werthers-Echte-Werbung aus den 90ern. Und heute bin ich der Großpapa.«
Imka kam vorbei und fragte, ob das Interview mit Justus fertig geschnitten sei und ob sie es mal sehen dürfe.
Auswendig konnte ich inzwischen Fragen und Antworten mitsprechen, aber natürlich sah ich es mir gern noch mal mit ihr gemeinsam an und trottete zum Sichtgerät.
Mit Imka kam ich inzwischen bestens aus. Sie band mich in viele Tätigkeiten ein, die über ein normales Praktikum hinausgingen. Ihre Launen konnte ich mittlerweile einschätzen und wusste genau, wann man besser nichts sagte.
Mittlerweile verstand ich auch, weshalb Imka anfangs einen solchen Aufstand veranstaltet hatte und mich ohne Fernseherfahrung nicht haben wollte. Praktikanten waren beim Fernsehen im Gegensatz zu den Praktikanten in anderen Branchen nicht nur Anhängsel, die über die Schulter schielen durften – nein, das Medienbusiness lebte im Prinzip von arbeitswilligen, motivierten und unverbrauchten Arbeitskräften, die teilweise ein sektenähnliches Verhalten an den Tag legten, um fürs Fernsehen zu arbeiten, immer in der Hoffnung, eines Tages groß rauszukommen. In der Zwischenzeit ackerten sie, rissen begeistert eine Überstunde nach der anderen, um genug good will zu zeigen und dann irgendwann ins Fernsehnirvana aufzusteigen – als Producer oder als Moderator.
Das mit dem »sektenähnlichen Verhalten« hatte ich von Tim, der einen Artikel über Privatsender an seinem Platz hängen hatte. Dort wurde von erleuchteten, beängstigenden Praktikanten gesprochen, die, um beim Fernsehen arbeiten zu dürfen – die Betonung lag auf dürfen –, nicht nur ihre Seele verkauft hätten und auf der Sympathieskala nur wenige Plätze vor menstruierenden Frauen im Kaufrausch standen.
Neben diesem erheiternden Artikel, den ich weder meinen Eltern noch Lena (»Ich hab’s schon immer gewusst!«) kopieren würde, hatte sich Tim einen aufmunternden anonymen Leserbrief ausgeschnitten, in dem der Moderator von entertainment tonight auf das Übelste beschimpft wurde, weil er es gewagt hatte, sich ironisch über ein »Nachwuchstalent« zu äußern, das einer dieser inflationären Castingshows entsprungen war.
Ich frage mich, was für Menschen sind das, die bei Ihrem Sender arbeiten? Sind Sie alle kranke Nichtskönner, Nichtsblicker? Ihr Team ist Abschaum, denn wenn ihr nicht begreift, dass Dominik Mückelman mit seiner positiven Art und seinem Talent Licht und Freude in diese Welt bringt, und Sie das in den Dreck ziehen müssen, wünsche ich euch alles Schlechte, ihr Idioten.
Anonym.
P. S. Falls Sie gegen mich vorgehen, berufe ich mich auf mein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Solche Briefe erhielt der Sender laut Mimi immer mal wieder. Meistens von Hand geschrieben, auf Briefpapier, von dem man dachte, es in den 80ern ausgerottet zu haben, sprich: vorzugsweise mit Pferdemotiven oder einem Händchen haltenden Pärchen im Sonnenuntergang am Strand. Bezeichnend für diese Art von Briefen war die wechselnde Anredeform, die zwischen Siezen und Duzen schon mal hin und her sprang, sowie die i-Pünktchen, die eher kunstvoll gezeichnete kleine Kreise waren, was von Grafologen entweder als Zeichen von Kreativität oder aber schwer gestörtem Verhalten gedeutet wurde. Diese Briefe waren entgegen der persönlichen, fast liebevollen Aufmachung immer anonym und kamen mir mit dem Hinweis auf das Recht der freien Meinungsäußerung gelinde gesagt paranoid vor – immerhin brachten sie Spaß in die Redaktion, was die Schreiber in ihrer Meinung, dass es beim Fernsehen nur gefühllose, zynische Sadisten gab, die einfach kein Herz für Stars wie Dominik Mückelman hatten, sicherlich bestärken würde. Übrigens ging diese Art von Fanatismus oft mit der Tatsache einher, dass der Fan auf irgendeiner Veranstaltung, meistens einem Frühjahrsfest, eben verteidigten Nachwuchskünstler persönlich hatte kennen lernen dürfen und dieser ja so unglaublich nett gewesen sei und Schmach einfach nicht verdient habe. Tja, wer hatte das schon?
Ich nahm mir fest vor, falls Justus je von irgendjemandem verunglimpft würde, keinen flammenden Leserbrief zu seiner Ehrenrettung zu verfassen.
Ach Justus! Natürlich hatte ich den ganzen Tag an nichts anderes denken können, was halbwegs legal war, da ich die Sendung mit ihm vorbereitete.
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