Flußfahrt
Chance begeben, wenn der Mann kam. Falls er kam. Ich machte es mir so bequem wie möglich und beschloß, bis zum Tagesanbruch auf dem Baum zu bleiben. Ich begann mich in Lautlosigkeit zu üben, denn das gehörte zu meiner Aufgabe. Es war sehr still. Ich konnte den Fluß kaum noch hören. Von den Stromschnellen flußaufwärts drang nur ein gleichmäßiges Rauschen herüber, in das sich, so meinte ich wenigstens, wenn ich genau hinhorchte, ein anderes Geräusch mischte, das von flußabwärts herzudringen schien. Wahrscheinlich kam es von weiteren Stromschnellen oder sogar von einem Wasserfall. Falls das zutraf, standen die Chancen gut, daß ich den richtigen Platz aus gesucht hatte. Alles war logisch, obgleich ich trotz aller Logik noch immer nicht ganz glauben konnte, daß der Mann kommen würde, viel wahrscheinlicher war, daß ich bei allen meinen Überlegungen fehlgegangen war. Ich spielte nur Gedanken durch, Gedanken allerdings, bei denen es um Leben und Tod ging. Ich war schrecklich müde, und Aufregung überkam mich erst, als ich daran dachte, daß ich möglicherweise doch alles richtig berechnet hatte und daß es schließlich zu jener letzten Handlung kommen würde: die Pfeilspitze durch den Tunnel von Kiefernnadeln auf einen menschlichen Körper zu richten und loszulassen, unwiderruflich. Vor allem aber staunte ich über meine Lage. Ein benommenes Staunen. Es fiel mir schwerer, mir vorzustellen, daß ich in einem Baum saß, als die Hand auszustrecken und die Rinde oder die Nadeln zu berühren und dabei festzustellen, daß ich tatsächlich auf dem Baum saß, inmitten der Nacht – oder irgendwo in der Nacht –, tief in den Wäldern, und darauf wartete, einen Mann zu töten, den ich erst einmal im Leben gesehen hatte. Niemand auf der Welt, so dachte ich, weiß, wo du bist. Ich spannte den Bogen wieder etwas, und der Pfeil kam auf mich zu. Wer würde mir das glauben, sagte ich atemlos, wer würde das für möglich halten? Das Warten wurde mir lang. Ich sah auf meine Uhr, aber der Fluß hatte sie zerstört. Mein Kopf fiel nach vorn und schien auf die Erde rollen zu wollen. Zwei- oder dreimal fuhr ich aus dem Schlaf hoch, aber jedesmal mühsamer. Einmal schrak ich aus dem ältesten aller Träume auf – dem ältesten und traumähnlichsten –, aus dem Traum nämlich, in dem man zu fallen beginnt. Eine Sekunde lang wußte ich absolut nicht, was ich tun oder wonach ich greifen sollte, und streckte deshalb nur ziellos die Hand aus. Ich reckte mich, suchte wieder festen Sitz zu fassen und überprüfte von neuem meine Lage.
Im Bogen lag kein Pfeil mehr.
Mein Gott, dachte ich, jetzt bist du verloren. Ich glaubte, daß ich den anderen Pfeil, den verbogenen, nicht einmal richtig durch den Nadeltunnel jagen könnte. Und ohne Waffe würde ich hilflos im Baum hocken und, das wußte ich, darum beten daß der Mann mich nicht bemerkte, und so lange drin bleiben, bis er Bobby und Lewis getötet hatte. Ich wußte, daß ich ihn nicht mit dem Messer angreifen würde, selbst wenn ich ihn von hinten überraschen konnte. Es war jetzt eher noch dunkler als zuvor. Ich hängte den Bogen an einen Zweig und kletterte hinunter. Dort hätte der Pfeil liegen oder auch stecken müssen, aber er tat es nicht. Ich kroch durch die Nadeln und weinte vor Angst und Enttäuschung; ich tastete alles ab, mit Händen, Armen, Beinen, mit meinem ganzen Körper und allem, was ich hatte, und ich hoffte, daß die Doppelspitze mich schneiden oder sich sonst irgendwie bemerkbar machen würde. Wenn sie nur da war. Aber sie war nicht da, und ich spürte schon die allererste Dämmerung. Ich mußte wieder auf den Baum. Sobald ich etwas besser sehen konnte, würde ich versuchen, den anderen Pfeil geradezubiegen, aber es war mir klar, daß mein Vertrauen in meine Treffsicherheit vermindert war. Es gibt keine Sportart und keinen Beruf, wo das Vertrauen so wichtig ist. Nicht einmal beim Golf oder in der Chirurgie ist Vertrauen so wichtig wie beim Bogenschießen. Aber dann fand ich den Pfeil, den ich fallengelassen hatte, auf einem Zweig unterhalb meines Sitzes, und der Plan, den ich aus gearbeitet hatte, nahm wieder Gestalt an und festigte sich in mir wie Marmor. Es war alles da, und ich kletterte zu meinem Bogen und nahm wieder meine Schußposition ein. Das Nadelgewirr füllte sich langsam mit dem ersten Tageslicht. Der Baum begann sanft zu erglühen, warf das zerbrechliche, von den Nadeln aufgefangene Licht auf mich, und mir war, als werfe ich es zurück. Ich
Weitere Kostenlose Bücher