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Flußfahrt

Flußfahrt

Titel: Flußfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Dickey
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blickte immer noch durch den jetzt grün schimmernden Tunnel. Ich hielt den Mund offen, um leiser zu atmen, um nicht versehentlich geräuschvoll durch die Nase zu atmen. Ich konnte jetzt deutlich sehen: die nadelübersäte, felsige Stelle unter dem Baum und von da aus bis zu dem sandigen Plateau, das ungefähr drei Meter breit und von hohem, wildem Gras gesäumt war, und darüber hinaus in die Weite, und dann ruhte mein Auge auf dem Fluß. Jetzt mußte Bobby sich aufmachen. In ein paar Minuten würde alles vorüber sein. Entweder hatte ich mich geirrt, oder ich hatte recht gehabt, entweder wir würden sterben, oder wir würden leben. Aber vielleicht hatte Bobby sich auch schon aufgemacht und war da unten an mir vorbeigeglitten, während ich nach dem Pfeil suchte. Ich konnte es nicht sagen, und ich duckte mich unter den Zweigen, darauf gefaßt, daß der Gewehrschuß womöglich aus einer anderen Richtung kam, von einer anderen Stelle, an die ich nicht gedacht hatte oder die ich nicht kannte. Aber nichts regte sich. Das Licht nahm zu. Das Gefühl, hier oben in der Krone des Baumes in Sicherheit zu sein, verließ mich allmählich. Im richtigen Blickwinkel konnte jemand, der auf dem Plateau stand, genau durch meinen Tunnel aus Kiefernzweigen blicken und mich zufällig sehen. Viel hing vom Zufall ab. Ich bewegte mich vorsichtig wie ein Tier, das in Bäumen lebt, reckte den Hals und beugte mich etwas nach vorn, um einen halben Meter mehr von dem Rand der Schlucht im Blickfeld zu haben, um zu sehen, ob das Kanu schon auszumachen war.
    Da tauchte plötzlich in meinem linken Augenwinkel etwas auf, und das Blut gefror mir in den Adern. Ich drehte den Kopf nicht ruckartig um, sondern ganz langsam. Aber ich wußte es. Ich wußte es, ich wußte es. Steine stießen aneinander, und ein Mann mit einem Gewehr ging auf das Sandplateau zu. Er hatte die rechte Hand in der Tasche.
    Das ist es, dachte ich, aber im gleichen Augenblick empfand ich den Wunsch – einen Wunsch, dessen ich mich nicht erwehren konnte –, mich im Baum versteckt zu halten, bis er wieder fort gegangen war. Die Energie, mit der ich die Felswand bezwungen hatte, hatte mich verlassen. Ich wollte nur leben. Alles in mir bebte; ich wäre nicht imstande gewesen, den Bogen zu spannen.
    Dann blickte ich nach unten und sah, wie meine Hand den Bogen hielt: die beiden Spitzen des Pfeils mit ihren leicht angerauhten scharfen Kanten hoben sich durch ihre Farben deutlich voneinander ab. Das gab mir Sicherheit, und ich glaubte wieder daran, daß ich in dieser tödlichen Scharade meine Rolle spielen würde. Sobald er sich auf den Bauch legte und mir den Rücken zuwandte, würde ich schießen. Ich legte Zeige- und Mittelfinger um das Fiberglas des Bogens, atmete langsam durch den Mund ein und lehnte mich lautlos und angespannt zurück. Er blickte hinunter, flußaufwärts, und stützte sich mit beiden Händen auf das Gewehr; nichts schien darauf hinzudeuten, daß er es aufnehmen und an die Schulter heben wollte. Es lag etwas Entspanntes und Genießerisches in seiner Körperhaltung, etwas kreatürlich Anmutiges, noch nie hatte ich ein schöneres oder überzeugenderes Bild gesehen. So, wie er jetzt dastand, hätte ich ihn gern getroffen, und ich betete, daß Bobby in Sicht kam, aber noch immer konnte ich auf dem Fluß nichts erspähen und der Mann offenbar auch nicht. Aus irgendeinem Grund bewegte er sich etwas und geriet zur Hälfte aus meinem Nadeltunnel. Warte, bis er sich hinlegt, sagte ich mir, und dann triff ihn tödlich, mitten in den Rücken. Handle mit System. Versuche, sein Rückgrat zu brechen, so daß du ihn selbst dann, wenn du seine Wirbelsäule verfehlst, an einer lebenswichtigen Stelle triffst. Aber er stand immer noch da, gleichgültig, weder unentschlossen noch entschlossen; er stand nur da, und ein Teil seines Körpers bot sich mir zum Schuß dar, aber nicht der Kopf und auch nicht der andere Teil. Ich täte besser daran, es jetzt zu versuchen, sonst entfernt er sich unter Umständen ganz aus meiner Schußlinie. Ich krümmte den Arm, um meine Muskeln zu erproben. Die Sehne des Bogens straffte sich in einem stumpfen Winkel. Ich hatte den Mann genau vor mir, und er bot dem Schußloch in den Nadeln etwas mehr von seinem Körper dar. Er war mir seitlich zugekehrt, aber falls er das Gesicht in meine Richtung drehte und nur ein wenig den Kopf hob, mußte er mich sofort erblicken.
    Ich wußte, daß ich zunächst einen Kampf mit meinen Nerven vor mir hatte – die

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