Flusskrebse: Roman (German Edition)
nihilistischen Konzept. Aber da sie ein rein logischer Widerspruch in sich ist - denn „alles“ ist eine absolute Aussage - hat sie bedenkliche Schieflage, meine ich.
Was meinten die Leute nur? Aber vor allem: sie
meinten
. Jeder hatte eine Meinung, aber nichts war irgendwie fundiert. Sie einigten sich nicht einmal darüber, was sie unter „gut“ verstehen wollten. Sie stritten darüber, ob der Gegensatz zu „gut“ „böse“ oder „schlecht“ war, aber was der Inhalt dieser Begriffe sein sollte, blieb unklar.
Was meinte Patrice, wenn er fragte, ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht sei? Was meinte Rousseau, was meinte Hobbes? Für Rousseau war der Gegensatz zum guten Menschen der Egoist. Als war der gute Mensch altruistisch? Für Hobbes war der böse Mensch aggressiv. Also war der gute Mensch friedlich? Aber konnte man im friedliebenden Menschen nicht auch einen verächtlichen Schwächling sehen, im Altruisten einen Idioten, der sich ausnützen lässt?
*
Als Mautner sich am Abend erkundigte, wie der Job in Reiters Galerie verlaufen sei, antworteten Juvénal und Patrice höflich, aber reserviert, es sei schon in Ordnung gewesen. Sie hätten alles an einem Tag erledigt. Mautner erkundigte sich nach der Bezahlung.
„Monsieur Reiter hat gefragt, ob wir mit 10 Euro pro Stunde einverstanden wären. Am Abend hat er uns für 8 Stunden jedem 100 Euro gegeben.“
Mautner runzelte die Stirn. Er wusste nicht wirklich Bescheid über die Stundensätze von Elektrikerfirmen, aber er hatte den vagen Eindruck, dass sich Reiter mehrere hundert Euro erspart hatte. „Mit kommt es ein bisschen wenig vor. Sie sind ja qualifiziert. Soll ich ihn anrufen und mit ihm reden?“
„Nein, nein, wir sind zufrieden“, sagte Juvénal. „Er hat gesagt, er hat vielleicht später wieder Arbeit für uns und er will uns auch weiterempfehlen. Mit der Zeitung verdient man vielleicht 20 Euro am Tag, höchstens 30.“
„Wo verkaufen Sie die eigentlich?“
„In den U-Bahnstationen. Oder bei einem großen Supermarkt. Manchmal geben einem die Leute auch einfach so einen Euro und nehmen die Zeitung gar nicht.“
„Bekommen Sie auch unangenehme Dinge zu hören?“
„Selten. Viele Leute schauen einfach an einem vorbei, sie wollen einen nicht ansehen. Manche erlauben sich dumme Scherze. Letzte Woche hat mich ein Mann gebeten, seinen Einkaufswagen zurückzustellen. Ich sollte die Münze behalten. Als ich den Wagen zurückstellte, war eine Plastikmünze darin. Er hat mir zugewinkt und gelacht, als er mit seinem Wagen an mir vorbeifuhr. Aber vielleicht hatte er auch vergessen, dass er keine richtige Münze in den Wagen gesteckt hatte.“
„Ich war erstaunt über die Preise in diesem Geschäft“, sagte Patrice. „Solche Masken, die hier um 50 oder 80 Euro verkauft werden, konnte man in Uélé auf dem Markt um 2 Dollar bekommen.“
Juvénal wiegte nachdenklich den Kopf: „Er muss vielleicht sehr viel Miete bezahlen für sein Geschäft.Aber es ist wohl in erster Linie eine Frage von Angebot und Nachfrage. Gab es viele Touristen in Uélé?“
Patrice stieß ein Lachen aus: „Für Touristen gibt es dort nichts. Es kamen nicht viele Ausländer dahin. Ein paar Geschäftsleute, Lehrer, Beamte von internationalen Organisationen. Vielleicht haben die solche Dinge gekauft.“
„Ich habe über Ihre Frage nachgedacht“, sagte Mautner. „Ich finde es fast beschämend, dass ich als Naturwissenschaftler Ihnen da keine klare Antwort geben kann. Aber sagen Sie mir, was erwarten Sie sich denn von der Beantwortung Ihrer Frage?“
„Das liegt doch auf der Hand!“ Juvénal kam Patrice zuvor. „Wenn die Menschen von Natur aus gut sind, muss man verhindern, dass ihre Natur verfälscht wird, durch Erziehung zum Beispiel oder durch eine schlechte Moral. Aber wenn die Menschen von Natur aus schlecht sind, ja, dann muss man sie zum Guten erziehen oder vielleicht sogar zwingen.“
Patrice schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sicher, ob das daraus folgt. Warum sollte man die Menschen dazu bringen, gut zu sein?“
„Weil wir uns sonst gegenseitig ausrotten werden. Müssen wir nicht herausfinden, wie man Kriege endlich verhindern kann?“
„Aber wenn nun der Mensch von Natur aus Krieg führt, warum sollte man ihn dann zwingen, gegen seine Natur zu handeln?“
„Früher hatten die Menschen nur schwache Waffen. Sie konnten nicht die ganze Menschheit ausrotten. Heute gibt es Atomwaffen, chemische Waffen, biologische Waffen.“
„Und warum
Weitere Kostenlose Bücher