Flusskrebse: Roman (German Edition)
sollte sich die Menschheit nicht ausrotten? In all den Büchern, die ich studiert habe, habe ich keinen überzeugenden Grund dafür gefunden.“
„Ich habe einmal ein Buch gelesen“, erinnerte sich Mautner, „ein solches Buch, kann, glaube ich, nur ein Deutscher schreiben. Es heißt ‚Das Untier’. Man kann das gar nicht richtig übersetzen, es bedeutet einerseits ‚Monster’, aber es heißt auch ‚Nicht-Tier’ und damit meint der Verfasser eben den Menschen. Er will mit seinem Buch nachweisen, dass es besser wäre, wenn die Menschheit nicht existierte. Nun, da es diese ABC-Waffen gibt, soll die Menschheit die Gelegenheit sich selbst auszurotten nur ja nicht versäumen. Und er meint das nicht als Satire, sondern buchstäblich.“
„Und? Hat er sich umgebracht?“ fragte Patrice.
„Soviel ich weiß, nicht. Er unterrichtet Literatur an der Universität und schreibt Bücher, Theaterstücke und Gedichte.“
„Ich habe oft daran gedacht, mich umzubringen. Warum soll ich in dieser Welt leben, habe ich mich gefragt? Warum soll ich in einer Welt leben, in der Menschen anderen Menschen die Arme und Beine abhacken und sie in den Sumpf werfen und verbluten lassen? Warum soll ich in einer Welt leben, in der Frauen mit Kindern auf dem Rücken eine Machete nehmen und wehrlose Menschen abschlachten? Nichts, was ich über Religion und Philosophie gelesen habe, konnte mich überzeugen, dass ich verpflichtet sei zu leben. Und doch habe ich mich nicht umgebracht. Warum? Weil ich die Schmerzen fürchte? Ich hätte mir genug Heroin verschaffen können, um mir einen angenehmen Tod zu bereiten. Aber ich habe es nicht getan. Warum?“
„Wenigstens darauf kann ich Ihnen eine Antwort geben. Lebewesen, die sich gegen das Sterben nicht zur Wehr setzen, haben nicht viele Nachkommen. Meistens gar keine. Sie können ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod nicht weitervererben. So stammen wir eben von Lebewesen ab, die sich mit aller Macht gegen den Tod gesträubt haben und wir haben dieses Sträuben von ihnen geerbt. Das ist ein Naturgesetz, das sich aus der Logik der Evolution ergibt: Es kann auf die Dauer nur solche Lebewesen geben, die sich gegen das vorzeitige Sterben zur Wehr setzen. Wir sind dazu verurteilt, leben zu wollen, und nur in Ausnahmefällen können wir uns darüber hinwegsetzen.“
„Und ist nicht das der Grund, warum sich die Menschheit nicht ausrotten soll?“ Juvénals Stimme war hoffnungsvoll. „Weil die Menschen eben leben wollen? Und baut nicht darauf die Moral auf: dass die Menschen leben wollen?“
„
Die
Moral gibt es nicht“, sagte Patrice. „Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigene Moral. Für Christen ist Selbstmord die größte Sünde, für die Azteken war er das höchste Opfer und hat den Menschen sofort ins Paradies gebracht. Für die einen ist das Eigentum heilig, für die anderen ist Eigentum Diebstahl, und so weiter.“
„Hat nicht der Philosoph Kant eine allgemeingültige Moral entwickelt? So etwas wie die Goldene Regel: Was du nicht willst, dass man’s dir tu, das füg’ auch keinem andern zu?“
„Kant hat gemeint, er hätte eine Regel für das Verhalten entdeckt, die sich rein logisch ableiten lässt: Handle so, dass der Grundsatz deines Handelns allgemeines Gesetz sein könnte. Er wollte eine Moral, die nicht davon ausgeht, was nützlich ist, sondern er wollte eine Art ethisches Naturgesetz entdecken, das man mathematisch berechnen kann wie die Bahnen der Planeten. Aber er ist damit gescheitert. Denn er konnte nicht beweisen, dass die Menschen sich überhaupt nach irgend einer Regel richten sollen. Und nach seiner Regel könnte einer, der meint, dass Privateigentum eine schädliche Einrichtung ist, stehlen. Und ein anderer, der meint, dass das Privateigentum eine nützliche Sache ist, dürfte sein Eigentum verteidigen. Also dreht sich die Sache im Kreis, denn man müsste erst wieder untersuchen, ob Privateigentum nun objektiv nützlich oder schädlich ist.“
„Nun, ich glaube“, mischte sich Mautner wieder ins Gespräch, „dass die Naturwissenschaft bescheidener sein muss als Kant oder der liebe Gott. Sie kann keinen kategorischen Imperativ finden, sie muss sich mit dem begnügen, was Kant hypothetischen Imperativ genannt hat. Sie kann sagen: ‚
Wenn
du gesund bleiben willst, dann rauche keinen Tabak!’ Das kann die Naturwissenschaft sehr gut begründen. Aber sie kann nicht kategorisch begründen, dass du verpflichtet bist, auf deine Gesundheit zu achten.“
„Aber
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