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Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Auer
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wie weit kommen wir da?“ fragte Juvénal. „Das ist doch dann alles sehr relativ, oder? Die Naturwissenschaft sagt uns: ‚Wenn du einen Menschen töten willst, musst du dies tun, wenn du einen Menschen heilen willst, musst du das tun’, aber sie sagt uns nicht, ob wir töten oder heilen sollen? “
    „So ist es – leider“, sagte Mautner. „Die Naturwissenschaft kann die Wirkung von verschiedenen Giften und Heilmitteln untersuchen und kann dann versuchen, Voraussagen zu machen: Wenn du dies schluckst, passiert das, wenn du jenes schluckst, passiert das und so weiter.“
    „Aber die Naturwissenschaft kann voraussagen, dass die meisten Menschen leben wollen? Haben Sie das nicht vorhin gesagt? Und ist es nicht auch so, nach derselben Logik, dass die meisten Menschen auch Kinder haben wollen und wollen, dass ihre Kinder leben und sich fortpflanzen können?“
    „Das ist sicher richtig. Die Menschen, die diesen Wunsch hatten, haben sicher besser für ihre Kinder gesorgt und haben mehr Kinder großbekommen als die, die ihre Kinder vernachlässigt haben.“
    „Dann müssten die meisten Menschen auf dieser Welt den Wunsch haben, dass die Menschheit weiterbesteht. Wenn sie wollen, dass es ihren Nachkommen gut geht, dann müssen sie wollen, dass auch diese Nachkommen Teil einer Menschheit sein werden und nicht die letzten Überlebenden in einer zerstörten Welt. Und was das Fortbestehen der Menschheit fördert und was das Fortbestehen der Menschheit gefährdet, das sind Fragen, die die Naturwissenschaften untersuchen können, nicht wahr?“
    „Nun ja...“, murmelte Mautne nachdenklich.
    „So wie Sie untersuchen, was das Fortbestehen der Flusskrebse gefährdet und was es fördert.“
    Der Satz versetzte Mautner einen Stich. Aber Juvénal hatte ihn wohl gar nicht als Vorwurf gemeint. Konnte man an die Rettung der Menschheit mit denselben Mitteln herangehen wie an die Rettung der Flusskrebse? Musste die Menschheit gerettet werden? Mussten die Flusskrebse gerettet werden? Was die Flusskrebse betraf, war seine Antwort klar. Ihre Gefährdung war offensichtlich, ihre schwindenden Zahlen sprachen eine eindeutige Sprache. Aber die Menschheit? Wenn man das Wohlergehen einer Art an ihrer zahlenmäßigen Entwicklung maß, dann stand die Menschheit in ihrer üppigsten Blüte. Freilich, wenn man Dinge erlebte, wie sie Juvénal und Patrice zugestoßen waren, musste man an ihrer Überlebensfähigkeit zweifeln. Und sie waren nicht die einzigen in seinem Umkreis, denen solches zugestoßen war. Er drängte Bilder zurück, die sich vor sein inneres Auge schieben wollten. Bilder von seinen Großeltern, die er nie gekannt hatte, in einem Wald bei Minsk, den er nie gesehen hatte, wie sie vor einem Graben hinknieten –
    In seiner Jugend war auch er ein Weltverbesserer und Menschheitsretter gewesen. Wer war das nicht? Doch inzwischen fand er, dass die Menschheit ganz gut ohne ihn auskam, während die Flusskrebse zu ihrer Rettung auf ihn und seinesgleichen angewiesen waren, auch wenn sie davon nichts wussten.
    „Untersuchen können das die Naturwissenschaften. Aber ob sie so bald klare, eindeutige Antworten finden, ist eine andere Frage.“
    „Also
wenn
wir wollen, dass die Menschheit weiterbesteht“, sagte Juvénal eifrig, „dann müssen wir doch die Antwort auf Patrice’ Frage finden.“
    „Aber was genau ist diese Frage?
Gut
und
schlecht
sind keine naturwissenschaftlichen Begriffe.“
    Juvénal dachte nicht lange nach: „Ist der Mensch von Natur aus aggressiv und egoistisch oder friedliebend und selbstlos?“
    „Ja“, sagte Mautner, „so hätte ich die Frage auch gestellt“.
    *
    Es konnte nicht ausbleiben: Neue Bewohner siedelten sich im Haus an. Die nächsten, die kamen, waren zwei Frauen. Juvénal hatte sie im Deutschkurs kennengelernt. Zweimal in der Woche besuchte er den Kurs. Eine Organisation, die Flüchtlingen half, veranstalte den.
    „Das ist Frau Zhao Yin Ling“, stellte Juvénal vor. Man stand wie üblich auf dem Gang im zweiten Stock. „Und das ist Frau Professor Saberi. Frau Zhao kommt aus China und Frau Saberi aus Afghanistan.“
    Frau Zhao war eine kleine, zierliche Frau. Ihr Haar war kurzgeschnitten und ihr Lächeln gut gelaunt. Sie hielt Mautner die Hand hin und er schüttelte sie. Frau Professor Saberi war nicht viel größer, doch um vieles gewichtiger und älter. Sie trug einen langen Mantel und ein bunt gemustertes Kopftuch, das unterm Kinn verknotet war. Mautner wollte auch ihr die Hand schütteln.

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