Flusskrebse: Roman (German Edition)
ich bei einer Gruppe von BaTwa gelebt, Pygmäen. Aber dann sind wieder die Interahamwe gekommen. Eines Tages habe ich neben einem Haufen Leichen eine Machete gefunden. Ich habe sie mitgenommen. Ich habe mir gedacht, wenn sie mich finden, werde ich mich wehren. Dann werde ich wenigstens schnell umgebracht. Oft haben sie den Leuten nur die Arme und Beine abgehackt und sie liegen lassen, auch wenn sie ihnen Geld angeboten haben für einen schnellen Tod. Ein paar Tage später habe ich eine Gruppe Flüchtlinge gesehen. Sie haben Gepäck mitgetragen, und es waren auch Frauen und Kinder dabei. Darum habe ich gedacht, dass es Tutsi auf der Flucht sind und habe mich nicht versteckt. Es waren aber Interahamwe, die vor der RPF-Armee geflohen sind. Sie haben meine Machete gesehen und haben gedacht, dass ich zu den Interahamwe gehöre und haben mir zugerufen: ,Es ist alles aus, die RPF-Armee ist im Anmarsch, wir gehen in den Kongo!’ Ich habe mich ihnen angeschlossen. Ich habe gedacht, wenn ich nicht mit ihnen gehe, werden sie merken, dass ich kein Interahamwe bin und werden mich vielleicht umbringen. Außerdem haben sie Essen gehabt und ich hatte schon tagelang nichts gegessen. So bin ich in ein Flüchtlingslager im Kongo gekommen. Das Rote Kreuz hat Kinder und Jugendliche, die ohne Verwandte waren, aus dem Lager geholt und in Heime gebracht. Ich kam in ein Heim in Isiro, das von belgischen Nonnen geführt wurde. Ich konnte dort das Gymnasium besuchen und dann die Universität von Uélé. Die Nonnen haben mir ein Stipendium für Frankreich verschafft.“
Patrice ließ den Kopf sinken und schwieg. Er schien nachzudenken und Mautner wollte ihn dabei nicht stören. Auch Juvénal sagte nichts.
„Ich bin in die Universität eingetaucht wie in einen Wald. Die Bibliothek war ein Irrgarten. Jedes Buch hat zu einem anderen Buch geführt, jedes Wissensgebiet hat auf anderen aufgebaut, jede These hatte eine Antithese. Wo war der Grund, der Ursprung? Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte, welchen Weg ich nehmen sollte. Mich beschäftigte nur eine Frage: Was ist der Mensch? Was ist seine wahre Natur? Ist es so, wie Jean-Jacques Rousseau gesagt hat, dass der Mensch von Natur aus gut ist und erst durch das Zusammenleben mit anderen egoistisch wird? Oder ist es so, wie Thomas Hobbes angenommen hat, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist? Dass die Menschen im Naturzustand einen Krieg aller gegen alle führen, und nur aus Angst die Macht dem Staat überlassen, damit dieser für Frieden sorgt? Kann die Wissenschaft den Streit der Philosophen klären? Welche Wissenschaft? Kann uns vielleicht die Biologie Antwort geben? Kann uns die Wissenschaft von der Entstehung des Menschen etwas über seine wahre Natur sagen? Sie haben sicherlich die Werke von Charles Darwin studiert. Was ist Ihre Meinung zu dieser Frage?“
Mautner dachte nach. Er schüttelte den Kopf: „Wissen Sie, ich befasse mich hauptsächlich mit Flusskrebsen.“
*
Ist der Mensch gut oder böse? Wann habe ich das letzte Mal über diese Frage nachgedacht? Mit fünfzehn? Mit achtzehn? Ist es nicht eine naive Frage? Ein bisschen lächerlich? Was würde es helfen, eine Antwort zu finden? Dass Menschen zu gutem und schlechtem Handeln fähig sind, das wissen wir doch. Es gibt Mutter Theresa und Adolf Hitler und alles mögliche dazwischen. Und wir begegnen den Menschen doch immer mit einer Mischung aus Vertrauen und Vorsicht. Ich sperre mein Auto und meine Wohnung ab, aber normalerweise nehme ich von einem Mitmenschen auf der Straße nicht an, dass er mich berauben will. Macht es einen Unterschied, ob ihn nur die Furcht vor den Gesetzen davon abhält oder seine Erziehung oder seine menschliche Natur? Leute, die nicht an das Gute im Menschen glauben, zählen wohl öfter ihr Wechselgeld nach und haben eine Pistole im Nachttisch oder Pfefferspray in der Handtasche. Würde ich Pfefferspray mit mir tragen, wenn ich von der bösen Natur des Menschen überzeugt wäre? Bewirkt es wirklich einen Unterschied im Verhalten, ob man an das eine oder das andere glaubt? Hobbes-Anhänger werden wohl ihre Kinder streng erziehen und dafür eintreten, dass Verbrecher möglichst lange eingesperrt bleiben. Ich würde ja eher für Resozialisierungsmaßnahmen eintreten und dass Kinder sich frei entfalten dürfen. Glaube ich also an die gute Natur des Menschen? Ohne dass ich mir das wirklich überlegt hätte? Ohne Vernunftgründe dafür zu haben? Aber wird menschliches Verhalten nicht sowieso nur in
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