Flusskrebse: Roman (German Edition)
dass es Sie nicht stört, wenn er für einige Zeit hier Unterschlupf sucht.“
Der Neuankömmling erhob sich zusammen mit Juvénal, beugte leicht den Kopf und hielt Mautner die Hand hin. „Guten Abend Monsieur. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Freund hier hat mir von Ihrer Großzügigkeit erzählt und ich hoffe, dass es für Sie keine Unannehmlichkeit bedeutet, wenn wir uns hier aufhalten.“
Mautner ergriff die hingehaltene Hand. Etwas zögernd sagte er: „Nein, das – macht ja keinen Unterschied für mich. Woher kennen Sie einander?“
„Wir verkaufen beide diese Straßenzeitung.“
„Ach ja. Ich – ich lese sie manchmal. Aus Ruanda kommen Sie?“
Der Neuankömmling nickte.
„Wollen Sie nicht etwas trinken?“ fragte Juvénal und wies auf eine Colaflasche, die auf dem Boden stand.
Mautner fühlte sich verpflichtet, die Gastfreundschaft anzunehmen: „Ja gerne, vielen Dank.“
Sie setzten sich auf die ausgebreiteten Schlafsäcke, und Juvénal schenkte Cola in drei Partybecher aus Plastik.
„Er ist ein Überlebender des Völkermords“, erklärte Juvénal.
Mautner runzelte die Stirn.
„1994“, half ihm Juvénal auf die Sprünge.
„Ja, Sie haben davon gesprochen. Und es war natürlich in den Medien hier bei uns. Dann sind Sie also – Tutsi?“
„Natürlich ist er Tutsi“, sagte Juvénal lächelnd. „Das sieht man doch!“
Patrice war schlank und wirkte dadurch größer als er wirklich war. Sein Gesicht war länglich und seine Nase schmal und gerade. Er trug keine Kopfbedeckung und seine Haare waren kurz geschnitten. Seine braunen Augen blickten ernst unter der hohen Stirn. Juvénal wirkte neben ihm etwas breiter und gedrungener. Patrice wirkte auch eleganter. Zu seinen Jeans trug er ein Jacket und Lederschuhe, während Juvénal Turnschuhe und einen Pullover anhatte.
„Und Sie haben auch um Asyl angesucht?“
„Nein, nein. Ich kann nicht um Asyl ansuchen. Der Genozid ist lange vorbei, unser Präsident ist ein Tutsi, in Ruanda wird niemand rassisch verfolgt. Die Mörder und die Überlebenden müssen friedlich zusammenleben, dazu sind sie vom Gesetz verpflichtet. Mir droht in Ruanda keine Gefahr. Ich bin mit einem Studentenvisum nach Frankreich gekommen. Aber ich habe mein Studium abbrechen müssen und mein Visum ist abgelaufen. Seither bin ich illegal in Europa.“
„Und was haben sie studiert?“
„Zuerst Rechtswissenschaften und Geschichte. Dann Philosophie. Dann Anthropologie und Psychologie. Dann Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaften. Es war zuviel. Mein Kopf hat es nicht ausgehalten. Ich bin krank geworden.“
Mautner schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, Sie werden sich fragen, warum diese Hast, warum dieser Übereifer. Ich wollte etwas herausfinden. Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind 1994 in Ruanda 800.000 Tutsi ermordet worden. Manche sagen, es waren 500.000, manche sagen, es waren eine Million. Ich persönlich habe großes Glück gehabt. Meine ganze Familie ist ermordet worden, nur ich habe überlebt. Wir waren in die Wälder geflüchtet, aber sie haben uns ausfindig gemacht. Wir waren in einem Sumpf versteckt, bis zur Nase im Wasser. Sie haben uns einen nach dem anderen herausgezerrt und mit ihren Macheten abgeschlachtet. Ich war 14 Jahre alt. Ich habe nicht gewusst, warum sie uns töten. Es hat schon früher begonnen. Sie haben uns Kakerlaken genannt. Wenn wir Fußball gespielt haben, haben die Jungs so getan, als ob sie Spraydosen in der Hand hätten, haben: ‚Fft, fft’ gemacht und so getan, als ob sie Ungeziefergift auf uns spritzten. Im Radio hat es geheißen, dass die Kakerlaken das Land zerstören und ausgerottet werden müssen. Sie haben auch Lieder darüber gespielt. Mir ist das immer wie eine Art Witz vorgekommen, man hat uns eben immer aufgezogen, aber als eines Tages das Flugzeug des Präsidenten abgestürzt ist, haben sie gesagt, nun müssen alle Tutsi getötet werden, kein einziger darf übrig bleiben. Als wir hörten, dass die Tutsi aus ihren Häusern geholt und abgeschlachtet werden, sind wir in die Wälder geflohen. Jeden Tag sind die Milizen, die Interahamwe, in die Wälder gekommen, haben nach Flüchtlingen gesucht und sie abgeschlachtet, bis es dunkel geworden ist. Am nächsten Tag sind sie wieder gekommen und haben weitergemacht. Als meine Familie ausgerottet war, bin ich alleine geflohen. Ich wollte nicht mit anderen Flüchtlingen aus meinem Dorf zusammen sein. Aber alleine ist es auch schwierig. Einen Monat lang habe
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