Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Auer
Vom Netzwerk:
gar nicht lebensfähig sein. Diese geschädigten Organismen werden sich nur schlecht oder gar nicht vermehren. Ganz selten aber wird diese Veränderung auch einen Vorteil für den ganzen Organismus bringen. Die Organismen mit dem veränderten Gen werden sich dann schneller vermehren als die übrigen und die anderen mit der Zeit verdrängen.
    Welche Veränderung ein Vorteil ist und welche ein Nachteil, das kann zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten ganz verschieden sein. Ein Gen für dickere Wolle kann für ein Schaf in einer kalten Gegend ein Vorteil sein, in einer heißen ein Nachteil.“
    „Entschuldigen Sie, Herr Professor“, unterbrach Patrice. „Hat nicht ein Wissenschaftler nachgewiesen, dass die Gene selbstsüchtig sein müssen?“
    „Sie meinen Richard Dawkins? Ja, er hat ein Buch mit dem Titel ‚Das selbstsüchtige Gen’ geschrieben. Das ist ein sehr provokanter Titel und das Buch war sehr erfolgreich. Es wendet sich vor allem gegen eine ältere Theorie: Ein anderer Wissenschaftler, Konrad Lorenz, hat angenommen, dass bei den Tieren ein ‚Arterhaltungstrieb’ vorhanden ist. Zum Beispiel würden Hunde oder Wölfe einander im Kampf nicht töten, weil das der Erhaltung der Art schaden würde.
    Dawkins hat gezeigt, dass ein solcher Arterhaltungstrieb mit der Logik der Evolution nicht zusammenpasst: Eine Veränderung an einem Gen bleibt dann erhalten, wenn sie dazu führt, dass von diesem veränderten Gen mehr Duplikate erzeugt werden. Sollte ein Gen einmal so verändert werden, dass es anders gebauten DNA-Ketten bei der Vermehrung hilft, dann würde es ja die Vermehrung von DNA-Ketten fördern, die dieses veränderte Gen nicht haben. Die DNA mit dem veränderten Gen würde also sehr bald wieder verschwinden.
    Nun schwimmen ja heute die DNA-Ketten nicht frei im Wasser herum. Eine zufällige Veränderung hat einmal dazu geführt, dass sehr einfache Proteinfäden produziert worden sind, die gar nichts konnten. Aber sie konnten doch etwas, nämlich ein Netz um die DNA und die Enzyme herum bilden, eine halbdurchlässige Haut, die verhinderte, dass fremde Enzyme eindrangen, die den Verdopplungsprozess der DNA stören könnten. So sind abgegrenzte Individuen entstanden, Organismen, die dem Einfangen und Bewahren von Energie zum Zwecke der Vermehrung dienten. Das war ein gewaltiger Vorteil. Bis dahin konnten sich solche Vervielfältigungskreisläufe nur in winzigen Poren von bestimmten Mineralien halten. Die Moleküle, die an dem Vorgang betiligt waren, wären sonst auseinandergetrieben. Dawkins betont nun, dass die Individuen nicht um ihrer selbst willen da sind, sondern nur der Vermehrung der Gene dienen, dass sie nur die Fortpflanzungsmaschinen ihrer Gene sind. Das Huhn wäre demnach die Methode des Eis, mehr Eier zu machen. Auch das ist eine provokante und sehr einprägsame Formulierung, nicht wahr? Aber genau so gut könnte man sagen, dass sich die Enzyme die Gene als Organisationsplan für ihre Zusammenarbeit geschaffen haben. Aber beides sind menschliche Betrachtungsweisen, die diesen Molekülen menschliche Absichten unterstellen.
    Trotzdem ist klar: So einfach, wie Konrad Lorenz sich das vorgestellt hat, liegen die Dinge nicht. Ich werde Ihnen ein Beispiel erzählen. Als Student habe ich einmal an einem Experiment mitgewirkt. Wussten Sie, dass hier in Wien eine der größten Krähenkolonien Europas zu finden ist?“
    Juvénal sagte: „An den Abenden, wenn der Himmel rot wird, fliegen Sie in gewaltigen Schwärmen über die Stadt nach Westen. Ich lausche oft ihrem Schreien. Es ist so voller Kraft!“ Und dann fügte er schüchtern hinzu: „Ich habe ein Gedicht über sie geschrieben.“
    „Oh bitte“, sagte Mautner, „dürfen wir es hören?“
    „Es ist ein Haiku. Kennen Sie diese Form? Es ist sehr kurz. Ich habe es auf Deutsch geschrieben, nicht auf Französisch.“
    „Keine langen Vorreden“, sagte Frau Saberi. „Wenn es gut ist, braucht es keine Erklärungen.“
    Juvénal schloss die Augen und alle schwiegen.
    „Oben am Himmel
    ein Schwarm schreiender Krähen.
    Hörst du? Sie singen!“
    Juvénal öffnete die Augen und blickte vor sich auf den Boden. Nach einer Weile sagte Frau Zhao: „Danke für diese Vers. Sehr schöne Vers.“
    Erst jetzt fiel Mautner ein, dass Frau Zhao kein Französisch sprach. Sie hatte ihn die ganze Zeit aufmerksam angeschaut, als ob sie ihn verstünde.
    „Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich spreche die ganze Zeit und sie können mich gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher