Flusskrebse: Roman (German Edition)
die alle drei einschloss. Yin Ling lächelte sie an. „Die Dozentin vom Sprachkurs hilft mir, was die Dokumente angeht. Wir haben schon die Anzeige bei der Polizei gemacht und ich habe bei der afghanischen Botschaft einen Pass beantragt. Aber Sie können sich vorstellen, bei den Verhältnissen in unserem Land, dass das Monate dauern kann.“
„Aber wie werden Sie ...?“
„Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Denken Sie über die Fragen dieser jungen Leute nach, das ist wichtiger.“
*
„
Ich werde darlegen, dass eine vorherrschende Eigenschaft, die in erfolgreichen Genen erwartet werden muss, rücksichtslose Selbstsucht ist. Dieser Gen-Egoismus wird gewöhnlich ein egoistisches Verhalten des Individuums hervorrufen.
“
Mit diesem Zitat eröffnete Mautner das Symposium des nächsten Abends. Um zum gemeinsamen Mahl beizutragen, hatte er Apfelsaft und Topfenkolatschen mitgebracht.
„
Wenn man betrachtet, wie die natürliche Selektion funktioniert, scheint zu folgen, dass alles, was durch natürliche Selektion evolviert ist, selbstsüchtig sein sollte. Also müssen wir erwarten, wenn wir das Verhalten von Pavianen, Menschen und allen anderen lebenden Geschöpfen betrachten, dass sich dieses Verhalten als selbstsüchtig erweisen wird. Wenn wir finden, dass unsere Erwartung nicht zutrifft, wenn wir beobachten, dass menschliches Verhalten wahrhaft altruistisch ist, dann werden wir etwas Rätselhaftem gegenüberstehen, etwas, das einer Erklärung bedarf.
Sie sehen, Richard Dawkins hat sich hier sehr eindeutig festgelegt. Gibt es nun solch rätselhaftes Verhalten? Können in dieser grausamen Welt Kooperation und Solidarität entstehen? Es scheint, dass es da Antworten auf verschiedenen Stufen gibt.
Zusammenarbeit kann zum Beispiel aus purer Selbstsucht entstehen. Nehmen Sie etwa das Verhalten von Kühen auf der Weide, wenn sich ein Raubtier nähert.“
Mautner blickte Juvénal, der respektvoll schwieg, aufmunternd an.
Juvénal lächelte: „Die Kühe rücken zusammen.“
„Ich bin froh, dass Sie das sagen, denn ich selbst weiß es nur aus Büchern. Wenn alle Kühe gleich groß sind und gleich gesund aussehen, wird der Räuber sich natürlich auf die Kuh stürzen, die ihm am nächsten steht. Wenn eine Kuh weit von den anderen entfernt steht, gibt es einen großen Bereich, in dem sie für den Räuber das nächststehende Opfer wäre. Je näher sie bei anderen Kühen steht, um so besser ist die Chance, dass eine andere Kuh dem Räuber am nächsten steht. Wenn eine Kuh also die Nähe der anderen sucht, dann versucht sie, auf Kosten der anderen zu überleben. Aber wenn alle das machen, erhöht sich die Überlebenschance für alle.“
„Ja, das stimmt. Ein Jaguar oder ein Löwe greift nur sehr ungern eine geschlossene Gruppe an!“ bestätigte Juvénal eifrig.
Und Frau Saberi meinte grimmig: „Wenn eine jede für sich selbst sorgt, dann ist für alle gesorgt, wie?“
„Tatsächlich. Es gibt noch mehr solcher Beispiele. Antilopenweibchen zum Beispiel leben ja in großen Herden. Wenn jetzt eine ein Junges bekommt, ist die Gefahr groß, dass es von einem Raubtier gerissen wird. Wenn sie ihr Junges gleichzeitig mit einer anderen Mutter bekommt, ist die Gefahr für das eigene Junge nur mehr halb so groß, weil eine gute Chance besteht, dass sich ein Räuber für das andere Junge entscheidet. So geschieht es, dass alle Weibchen ihre Gebärzeiten miteinander synchronisieren und viele Junge gleichzeitig geboren werden. So ist für jedes einzelne die Gefahr kleiner.“
Patrice nickte, als wollte er sagen: Das habe ich mir gedacht.
„Oder nehmen wir das Warnen. Es gibt viele Vogelarten, die in Schwärmen oder Kolonien zusammenleben. Wenn ein solcher Vogel eine Gefahr bemerkt, dann stößt er einen Warnruf aus. Eigentlich ist das erstaunlich.“
„Warum?“ fragte Juvénal.
„Weil er sich in Gefahr bringt!“ brummte Patrice. „Er macht den Räuber auf sich aufmerksam!“
„Dann ist das doch ein Beispiel für selbstloses Verhalten!“
Patrice schüttelte den Kopf. „Ich schätze, wenn der Vogel alleine fliehen würde, würde er den Räuber erst recht auf sich aufmerksam machen. So scheucht er den ganzen Schwarm auf und kann sich unter die anderen mischen. Habe ich recht?“
„Allerdings. So erklären sich die Biologen dieses Verhalten. All dieser scheinbare Altruismus ist in Wahrheit egoistisch. Nur weil dieses Verhalten dem einzelnen Tier nützt, kann dieses Tier sein Verhalten an viele Nachkommen weiter
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