Flusskrebse: Roman (German Edition)
Persien und die Türkei beherrschte, ließ sie in zwei verschiedene Zellen sperren, so dass sie sich nicht miteinander verständigen konnten. Dann ging er zum ersten und sagte: ‘Höre, ihr zwei habt eine Gans gestohlen, dafür gebühren euch 20 Stockhiebe. Es ist nicht angenehm, aber man überlebt es. Nun weiß ich aber sicher, ihr habt nicht nur diese Gans gestohlen, sondern auch zwei goldene Becher aus meinem Palast. Dafür könnte ich euch hinrichten lassen. Das hätte für mich nur einen Nachteil: Ich würde so meine goldenen Becher nicht wiederbekommen. Ich könnte das Geständnis aus euch herausfoltern, aber ich habe mir etwas anderes ausgedacht. Pass genau auf: Wenn du den Diebstahl der Becher gestehst, und verrätst, wo ihr sie versteckt habt, dann lasse ich nur deinen Komplizen hinrichten, dich aber lasse ich laufen. Ihm werde ich freilich dieselbe Möglichkeit bieten. Wenn er gesteht, und du nicht, dann lasse ich ihn laufen, und du wirst hingerichtet. Es könnte natürlich sein, dass ihr beide gesteht. In diesem Fall könnte ich natürlich keinen von euch laufen lassen. Aber ich würde gnädig sein und jedem von euch nur die rechte Hand abhacken lassen.’
‘Und wenn keiner von uns gesteht?’ fragte der Gefangene, der übrigens wirklich mit seinem Komplizen gemeinsam auch die Becher gestohlen hatte.
‘Nun’, sagte Timur, ‚nachdem ich dann keine Beweise gegen euch hätte, würde es bei den 20 Stockschlägen für die gestohlene Gans bleiben.’ Diese Geschichte erzählte uns der Professor, und wir sollten herausfinden, was die beiden Gefangenen wohl tun würden.“
„Ich würde schweigen“, sagte Juvénal. „Das ist doch klar. Wenn beide schweigen, überleben sie beide und kommen mit 20 Stockschlägen davon.“
Patrice schüttelte den Kopf. „Dazu müsstest du sicher sein, dass dein Kumpan auch schweigt.“
„Aber natürlich wird er schweigen. Er weiß schließlich auch, dass das für uns beide das beste ist.“
„Aber wenn du schweigst und er gesteht, dann wird er freigelassen, ohne die Stockschläge. Und 20 Stockschläge sind schließlich kein Spaß.“
Juvénal runzelte die Stirn und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
„Und außerdem“, setzte Patrice nach, „muss er sich fragen, was ist, wenn du gestehst. Wenn du gestehst, ist es für ihn besser, auch zu gestehen, denn sonst wird er hingerichtet. So wird ihm nur die Hand abgehackt.“
„Aber ich gestehe nicht.“
„Dann wirst du hingerichtet. Denn er wird auf jeden Fall gestehen. Wenn du gestehst, ist es besser für ihn zu gestehen, weil er dann nur eine Hand verliert statt das Leben. Und wenn du nicht gestehst, ist es für ihn auch besser, zu gestehen, weil er dann freikommt, anstatt zwanzig Stockschläge zu bekommen. Und wenn er noch Zweifel hat, dann muss er nur bedenken, dass es für dich auch in jedem Fall besser ist, zu gestehen!“
„Also werden wir beide gestehen, also wird uns beiden die Hand abgehackt. Obwohl wir mit zwanzig Stockschlägen davonkommen könnten.“
„So ist es“, sagte Frau Saberi. „Natürlich ist es nicht wirklich eine alte afghanische Geschichte. Zwei amerikanische Mathematiker haben sich das Problem ausgedacht, und mein Lehrer hat es nur in diese Geschichte eingekleidet. Man nennt es das Gefangenendilemma. Das Beispiel der Löwen und Krähen hat mich daran erinnert. Aber erzählen Sie weiter, Herr Doktor!“
„Es ist spät“, sagte Mautner, „und ich möchte gerne einige Dinge zu unserem Thema nachlesen, bevor ich Ihnen Dinge erzähle, die vielleicht nicht richtig sind. Wie wäre es, wenn wir uns morgen wieder treffen und weitersprechen?“
„Ja, das ist wunderbar!“ sagte Juvénal. „Es ist wie das, was man in Griechenland ein Symposion nannte, nicht wahr? Man isst zusammen und führt Gespräche, um das Leben besser zu verstehen.“
„Ja, so sollte das sein.“ Juvénals Begeisterung stimmte Mautner traurig, er wusste nicht recht, warum.
Patrice nickte mit dem Kopf. „Ja, kommen Sie morgen wieder, Professor!“
Auch Frau Saberi stimmte zu.
„Aber Frau Professor, wollen Sie denn nichts unternehmen? Haben Sie den Verlust Ihrer Dokumente gemeldet? Haben Sie nach Hause geschrieben, oder an Ihre Kontakte in Norwegen? Gibt es jemanden, der Ihnen Geld schicken kann? Vielleicht kann ich Ihnen, als Überbrückung ...“
„Nein, nein, lassen Sie das, Herr Doktor. „Ich habe nicht viele Ansprüche und ich bin gern mit diesen Menschen zusammen.“ Sie machte eine Handbewegung,
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