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Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Auer
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verstehen.“
    „Keine Probrem. Bitte erzählen weita.“
    Mautner besann sich. „Wir mussten damals den Nestbau der Krähen beobachten“, fuhr er fort. „Die Krähen bauten ihre Nester in Bäumen am Waldrand. Sie flogen in den Wald hinein und suchten am Boden nach kleinen Ästen und Zweigen, die sie dann in ihre Nester einbauten. Wenn eine Krähe davonflog, um nach neuen Zweigen zu suchen, mussten wir auf den Baum klettern und die Zweige im Nest mit Farbe markieren. Wenn eine Krähe nämlich ein unbewachtes Nest sieht, dann holt sie ihre Zweige von dort. Das ist für sie einfach die nächstgelegene Quelle für Zweige. Wir haben also die Zweige mit Farbe markiert und beobachtet, was mit ihnen geschieht. Manche Zweige sind zehn, fünfzehn Mal gestohlen und woanders wieder eingebaut worden. So ein Zweig macht oft eine umständliche Reise durch die ganze Kolonie. Ist das nicht verrückt? Ich fand das verrückt. Ich war vollkommen entgeistert und schimpfte auf die Krähen: ‚Warum macht ihr das? Wenn ihr euch nicht gegenseitig die Zweige stehlen würdet, könntet ihr eure Nester in der halben Zeit fertig haben! Was seid ihr doch für Idioten!’ Wirklich, ich habe geschrieen, ich war echt verärgert. Ich war nämlich verliebt in die Krähen, weil sie so kluge Vögel sind, aber dieses Verhalten hat mich maßlos enttäuscht. Aber ich musste natürlich einsehen: Eine Krähe, die nicht stehlen würde, sondern nur frische Zweige bringen würde, die würde von den anderen in der Kolonie nur ausgebeutet werden. Sie könnte die Zweige gar nicht so schnell heranschaffen, wie sie von den anderen gestohlen würden. Wenn also eine zufällige Mutation so eine brave Krähe hervorbringen würde, würde die nie ihr Nest fertig bekommen und hätte keine Chance, sich fortzupflanzen, und so würde die Anlage zur Ehrlichkeit mit ihr wieder aussterben.
    Konrad Lorenz hatte also unrecht. Das Stehlen nützt der Fortpflanzung der einzelnen Krähe aber es schadet der Erhaltung der Art.
    Noch ein Beispiel: Wenn Löwenmännchen einen Harem übernehmen, sind sie während der ersten drei Monate den Löwenjungen gegenüber sehr aggressiv und töten sie fast immer. Erst später werden sie zu fürsorglichen Vätern, die den Jungen gegenüber sogar duldsamer sind als die Mütter. Der Grund dafür ist einfach: Im Durchschnitt verlieren die Löwen den Harem nach zwei bis drei Jahren wieder an ihre Nachfolger. Sie haben nur wenig Zeit, Junge zu zeugen. Trächtige oder säugende Löwinnen kommen nicht in Brunst. Die Löwen töten also die Jungen ihrer Vorgänger, damit die Löwinnen schnell wieder brünstig werden, also um sich selbst Nachwuchs zu sichern. Für die Spezies der Löwen ist das sehr schlecht. Denn die Sterblichkeit unter Löwenjungen ist sowieso sehr hoch. In der ostafrikanischen Steppe wird von fünf Löwenjungen nur eines erwachsen. Ein Teil verhungert, andere verunglücken oder werden von anderen Raubtieren gefressen. Die Löwen können gerade erreichen, dass sie nicht weniger werden. Wenn ein neuer Feind auftaucht, zum Beispiel der Mensch, ist der Bestand ihrer Art hoch gefährdet. Im Interesse ihrer Art täten die Löwen gut daran, den Kindermord abzuschaffen. Aber das können sie nicht. Ein Löwenmännchen, das durch Mutation die Eigenschaft erhalten würde, zu den Jungen der Vorgänger genauso gutmütig zu sein wie zu den eigenen, hätte kaum die Chance, überhaupt eigenen Nachwuchs zu bekommen, vor allem nicht eigene Söhne, denen es seine Gutmütigkeit vererben könnte. Die Löwen stecken in einem Teufelskreis und könnten ihm genau so wenig entkommen wie die Krähen. Indem jedes Löwenmännchen seinen eigenen Nachwuchs fördert, trägt es dazu bei, den Nachwuchs der Löwen insgesamt zu verringern.“
    „Aber“, wandte Juvénal ein, „woher wissen die Löwen, dass sie sich beeilen müssen, eigene Junge zu zeugen?“
    „Sie wissen es überhaupt nicht. Sie mögen einfach keine kleinen Löwen. Nach ungefähr drei Monaten verändert sich ihr Hormonhaushalt und sie fangen an, kleine Löwen zu mögen. Das ist ein relativ einfacher Mechanismus, aber er genügt. Löwen, die, diesen Mechanismus haben, haben mehr Nachkommen und können ihn weitervererben.“
    „Dazu fällt mir etwas ein“, sagte Frau Saberi. „Wir hatten einen Lehrer an der Hochschule, der uns eine alte afghanische Geschichte erzählte: In Samarkand wurden einmal zwei Diebe gefangen, die eine Gans gestohlen hatten. Timur Lenk, der damals Afghanistan, Usbekistan,

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