Flut: Roman (German Edition)
kälter. Sie wechselte ihn von der rechten in die linke Hand, ohne dass es viel nutzte, biss die Zähne zusammen und versuchte ihre Schritte zu beschleunigen. Schon mit dem zweiten oder dritten trat sie in eine Pfütze und eiskaltes Wasser lief ihr in die Schuhe und jagte ihr einen zusätzlichen kalten Schauer über den Rücken. Das hatte sie jetzt davon, dass sie vernünftig gewesen war!
Sie war vielleicht hundertfünfzig Schritte weit gegangen, nicht einmal ein Zehntel der Strecke, die sie sich vorgenommen hatte, als sie hinter sich ein Motorengeräusch hörte. Rachel blieb nicht stehen, ging aber ein wenig langsamer und warf einen Blick über die Schulter zurück. Ein Wagen näherte sich, fast im Schritttempo, und Rachel war zwar nicht völlig, aber doch ziemlich sicher, dass es sich um denselben nicht mehr ganz neuen hellblauen Opel handelte, der gerade an ihr vorbeigefahren war. Hatte er gewendet? Der kleine Wagen kam näher, machte einen leichten Schlenker und kam so dicht neben ihr zum Stehen, dass die Reifen am Bordstein quietschten. Durch die regennassen Scheiben hindurch konnte sie sehen, wie sich der Fahrer über den leeren Sitz neben sich beugte und mit mehr Mühe als Geschick oder Schnelligkeit das Fenster auf der Beifahrerseite herunterkurbelte. Ein leicht übernächtigt wirkendes, aber durchaus sympathisches Gesicht sah durch einen doppelt handbreiten Spalt zu ihr hoch.
»Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«
Kälte und strömender Regen beantworteten seine Frage mit einem eindeutigen Ja, aber es verging trotzdem eine gute Sekunde – eine sehr lange Zeit, wenn man frierend im Regen stand und einen Fußmarsch in der Größenordnung Hamburg - Peking vor sich hatte –, bevor sie antwortete, und in dieser einen Sekunde entstanden mindestens zwei Dutzend Szenarien vor ihrem geistigen Auge, was alles passieren konnte, wenn sie jetzt in diesen Wagen einstieg. Und nicht eines davon war angenehm. Blödsinn! Rachel rief sich in Gedanken zur Ordnung und nickte. Der Fahrer war keinen Tag älter als sie und schien nicht besonders gut in Form, er war zwar mindestens zwanzig Kilo schwerer als sie, aber ganz bestimmt kein potenzieller Vergewaltiger und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch kein CIA-Agent, der aus unerfindlichen Gründen auf sie angesetzt worden war. Und vermutlich auch kein Außerirdischer, den man über sechzig Millionen Lichtjahre hinweg hierher geschickt hatte, um ihr Erbgut zu stehlen, mittels dessen seine Rasse vor dem Aussterben bewahrt werden sollte. Er war nichts anderes als einfach nur hilfsbereit. Ein Autofahrer, der früh morgens an einer Bushaltestelle vorbeifuhr und eine einsame Frau im strömenden Regen stehen sah und beschlossen hatte, fünf Minuten seiner Lebenszeit und einen Fingerhut voller Sprit zu opfern, um einfach nur nett zu sein. Sie sollte sich schämen, ihm unlautere Absichten zu unterstellen!
Sie öffnete die Tür, wuchtete mit einiger Mühe den Koffer in den Fußraum des Wagens und schaffte es mit deutlich mehr Mühe sogar, auf den Beifahrersitz zu klettern und ihre Beine irgendwie in den Wagen zu bekommen. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ich dachte schon, ich wäre der letzte Mensch auf der Welt.«
»Das wahrscheinlich nicht«, antwortete er, »aber wahrscheinlich der Einzige, der bei diesem Wetter aus dem Haus geht.«
Rachel zog die Tür hinter sich zu, überlegte eine halbe Sekunde, den Sicherheitsgurt anzulegen, und entschied sich dann dagegen. In der verdrehten Haltung, in der sie auf dem Beifahrersitz saß und sich den Platz mit dem Koffer vor ihren Knien teilte, hätte sie wahrscheinlich länger dazu gebraucht, als der gesamte Weg dauerte. Allerdings fuhr ihr Lebensretter noch nicht los, sondern sah sie nur erwartungsvoll an. Sie spürte seinen Blick, bevor sie den Kopf drehte und ihn ansah. »Es ist wirklich nett, dass Sie angehalten haben.« Sie kam sich ein bisschen unbeholfen bei diesen Worten vor, und das vermutlich zu Recht. Der junge Mann hinter dem Steuer sah sie auch jetzt nur wortlos an, auf eine Weise, die sie nicht deuten konnte, und wozu auch? Sie hatten sich vor einem Augenblick kennen gelernt, und ihre Wege würden sich in einem weiteren Augenblick wieder trennen. Es lohnte sich nicht einmal, sich sein Gesicht einzuprägen. Dennoch kam sie nicht umhin, sich in ihrer ersten, flüchtigen Einschätzung bestätigt zu sehen. Ihr Gegenüber war etwa in ihrem Alter, musste etwa so groß sein wie sie und hätte vermutlich gut ausgesehen, hätte er zehn Kilo
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