Flut: Roman (German Edition)
er nur tun? Gib mir ein Zeichen, Herr, flehte Torben in Gedanken. Bitte, Gott, zeig mir, was ich tun soll! Aber der Himmel schwieg.
Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten, aber schließlich wuchs das Rotorengeräusch zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an und ein gelb und weiß lackierter Rettungshelikopter setzte keine zwanzig Meter entfernt von ihnen auf dem Dach auf.
Ein einzelner Schuss peitschte durch die Nacht.
Kapitel 1
Das Firmament hatte Feuer gefangen und der Himmel hatte alle seine Schleusen geöffnet und probte für eine neue Sintflut. Beides war seit Wochen nichts Besonderes und beides stimmte nicht wirklich, aber es kam der Wahrheit immerhin nahe genug, um unerschöpflichen Stoff für Schlagzeilen und aus dem Boden gestampfte pseudowissenschaftliche Sendungen im Privatfernsehen herzugeben, und beides interessierte Rachel im Moment nicht die Bohne. Alles, was sie im Augenblick wirklich interessierte, war die Frage, wie zum Teufel sie die knapp anderthalb Kilometer nach Hause zurücklegen sollte, ohne dabei bis auf die Knochen durchnässt zu werden und sich höchstwahrscheinlich die schlimmste Erkältung ihres Lebens einzuhandeln.
Rachel belegte sich in Gedanken mit einer ganzen Anzahl ebenso fantasievoller wie wenig damenhafter Bezeichnungen, zog fröstelnd die Schultern zusammen und versuchte einen Blick in den Himmel hinauf zu werfen, nach Möglichkeit, ohne dass ihr der Regen dabei wie eine eiskalte, nasse Hand ins Gesicht klatschte. Es funktionierte nicht. Das Wartehäuschen war nach dem gleichen universellen Gesetz erbaut, nach dem sämtliche Bushaltestellen auf der ganzen Welt errichtet wurden, und das besagte, dass die offene Seite immer dem Wind zugewandt war, ganz egal, aus welcher Richtung er gerade kam. Und das prächtige Farbenspiel, mit dem der Himmel die Menschen wenigstens zum Teil für den seit drei Wochen anhaltenden Dauerregen entschädigen sollte, verbarg sich hinter tief hängenden, fast schwarzen Wolken. Es war bitter kalt. Das sollte es nicht sein. Die großen Ferien hatten vor einer Woche begonnen. Es war Hochsommer. Die Leute waren bereits im Urlaub oder heftig mit Kofferpacken und anderen Urlaubsvorbereitungen beschäftigt, und auch wenn es erst halb sieben Uhr morgens war – sie sollte nicht in Kostüm und Trenchcoat an einer Bushaltestelle stehen und vor Kälte mit den Zähnen klappern.
Ein Wagen fuhr vorüber und Rachel unterbrach ihren Gedankenfluss für einen Moment, um ihn zu begutachten. Möglicherweise war es ja jemand, den sie kannte und der sich ihrer erbarmen und sie nach Hause fahren würde. Vielleicht auch jemand, der sie nicht kannte und der sich ihrer trotzdem erbarmte.
Statt jedoch abzubremsen, wurde der Wagen wieder schneller und Rachel trat mit einer raschen Bewegung in den zweifelhaften Schutz des Wartehäuschens zurück, um nicht zusätzlich von der hochgewirbelten Wasserfontäne durchnässt zu werden. Sie verbrachte weitere zehn Sekunden damit, die ausgestorben daliegende Straße beiderseits der Bushaltestelle vergeblich nach einem Anzeichen von Leben abzusuchen, gab dann ein leises, resigniertes Seufzen von sich und nahm mit der rechten Hand ihren Koffer auf. Mit der anderen schlug sie den Kragen des Trenchcoats hoch und trat mit einem entschlossenen Schritt in den Regen hinaus. Es nutzte ihr nichts, mit dem Schicksal zu hadern und sich selbst Leid zu tun. Der Regen würde für die nächsten achtundvierzig Jahre oder so wahrscheinlich nicht mehr aufhören und mit Bekannten war es irgendwie wie mit dieser Bushaltestelle: Sie ließen einen immer im Stich, wenn man sie wirklich brauchte. Und anderthalb Kilometer waren schließlich auch nicht so weit.
Nicht an einem strahlend schönen Spätsommernachmittag, wenn man einen Waldspaziergang machte, am besten noch nach einem guten Essen und in angenehmer Gesellschaft. Nach einer mehr oder weniger durchwachten Nacht in einem überfüllten Bummelzug bei strömendem Regen und allerhöchstens zehn Grad und mit einem zwanzig Pfund schweren Koffer an der Hand, dehnten sie sich zu einer Ewigkeit. Rachel bereute ihren Entschluss schon nach dem ersten Dutzend Schritten, aber nun war sie einmal unterwegs und sie wäre nicht sie gewesen, hätte sie auf die Stimme der Vernunft gehört und kehrtgemacht. Einmal ganz davon abgesehen, dass es wenig Sinn gehabt hätte. Der Koffer musste sich binnen Sekunden voller Wasser gesogen haben und wog nun ungefähr achtzig statt zwanzig Pfund, und es wurde mit jeder Sekunde
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