Flut: Roman (German Edition)
Wohnzimmer dahinter trat. Es war sehr still. Es war eine Woche her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, einen Raum zu betreten, der seit Menschengedenken leer gewesen war. Die Luft roch trocken und irgendwo in der Küche oder im Vorratsraum musste etwas zu faulen begonnen haben, denn sie spürte ein ganz leichtes süßliches Aroma. Aber auch darum würde sie sich später kümmern. Jetzt brauchte sie zuerst einen Kaffee und eine heiße Dusche, vielleicht auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Sie warf den Mantel achtlos über einen Stuhl, ging in die Küche und ließ heißes Wasser in die Glaskanne der Kaffeemaschine laufen. Während sie Pulver in den Filter gab, blickte sie durch das schmale Küchenfenster nach draußen auf die Straße.
Es regnete mittlerweile so heftig, dass sie alles, was weiter als drei oder vier Meter entfernt war, nur wie durch einen seit fünfzig Jahren nicht mehr geputzten Spiegel hindurch sah, aber der hellblaue Farbfleck auf der anderen Straßenseite war trotzdem nicht zu übersehen. Rachel überschlug in Gedanken rasch die Zeit, die vergangen war, seit sie das Haus betreten hatte. Nur wenige Sekunden, fünfzehn oder zwanzig, aber auf jeden Fall Zeit genug, um zum Wagen zurückzugehen und loszufahren. Das hatte er nicht getan.
Warum nicht? Vielleicht sollte sie sich doch Sorgen machen? Schließlich hörte man solche Geschichten ununterbrochen, sobald man nur den Fernseher oder das Radio einschaltete. Die Welt war voller Verrückter, daran gab es keinen Zweifel. Und wer sagte ihr, dass ausgerechnet sie davor gefeit war, einem solchen Verrückten über den Weg zu laufen?
Sie verscheuchte auch diesen Gedanken, schaltete den Kaffeeautomaten ein und begann sich auszuziehen, noch während sie auf dem Weg nach oben und ins Bad war. Die nächsten zehn Minuten verbrachte sie unter der Dusche, aber obwohl sie das Wasser so heiß stellte, dass ihre Haut bald krebsrot war und zu schmerzen begann, wurde sie die Kälte nicht wirklich los, die in ihre Glieder gekrochen war. Es lag nicht nur am Regen und an der äußeren Kälte. Sie war jetzt seit nahezu dreißig Stunden auf den Beinen und völlig übermüdet, und wahrscheinlich würde sie selbst dann noch frieren, wenn sie in geschmolzenem Blei badete.
Sie fühlte sich auch nicht erfrischt, als sie endlich aus der Duschkabine trat und nachlässig in den Morgenmantel schlüpfte, sondern eher noch matter, jetzt aber auf eine angenehme Art. Während der letzten Stunden war sie zu dem Entschluss gekommen, besser wach zu bleiben und diesen Tag früh zu Ende gehen zu lassen, statt sich hinzulegen und bis weit in den Nachmittag hinein zu schlafen, nur mit dem Ergebnis, dann ganz aus ihrem Tagesrhythmus gerissen zu sein und vermutlich wieder bis in die frühen Morgenstunden wach daliegen zu müssen. Aber sie spürte auch, dass sie das nicht durchhalten würde. Eine Woche Urlaub auf dem Land oder nicht, sie war körperlich mit ihren Kräften am Ende und, wie der kleine Zwischenfall gerade bewiesen hatte, psychisch wohl auch. Mittlerweile stufte sie das Benehmen des jungen Mannes wieder als so harmlos ein, wie es vermutlich auch gemeint gewesen war. Er war sicher niemand, den sie näher kennen lernen wollte, aber ebenso sicher auch harmlos. Jemand, der einfach noch nicht richtig begriffen hatte, dass sie mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten und nicht jede Frau, die morgens allein an einer Bushaltestelle stand, zwangsläufig darauf wartete, angesprochen und abgeschleppt zu werden. Wahrscheinlich tat sie ihm bitter Unrecht.
Rachel schüttelte den Kopf über ihr eigenes, völlig überzogenes Benehmen, schob es auf ihre körperliche und seelische Verfassung und ging mit langsamen Schritten wieder nach unten. Aus der Küche erscholl das metallische Rasseln der Kaffeemaschine, das besagte, dass sie gleich etwas Warmes zu trinken bekommen würde, und der unangenehme Geruch in der Wohnung kam ihr jetzt schon gar nicht mehr so schlimm vor, da er von frischem Kaffeeduft überlagert wurde. Trotzdem ging sie erst zum Fenster, zog die Jalousien hoch und öffnete die Terrassentür. Ein Schwall eisiger Luft drang zu ihr herein und ließ sie kurz frösteln, aber sie schloss die Tür trotzdem nicht wieder, sondern kippte im Gegenteil auch die beiden Fenster rechts und links daneben auf und warf im Vorbeigehen einen Blick auf die Anzeige des Anrufbeantworters. Sie erschrak. Sie stand auf Neunundneunzig, dem
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