Flut: Roman (German Edition)
mehr gewogen und einen etwas gesünderen Eindruck gemacht. Er war sehr blass. Sein kurz geschnittenes, schwarzes Haar war stumpf und sah irgendwie ungepflegt aus, obwohl es tadellos frisiert war, und er machte den Eindruck, als habe er in den letzten zwei Wochen keine Nacht mehr als drei oder vier Stunden geschlafen.
»Ich habe schon als kleiner Junge davon geträumt, ein Ritter auf einem weißen Pferd zu sein, der eine wunderschöne Jungfrau vor einem Drachen rettet.« Ein Schulterzucken und ein verlegenes Lächeln. »Zugegeben: Es ist nur ein alter Opel und statt des Drachens kann ich nur mit einem Platzregen aufwarten, aber es ist ein Anfang, oder?«
Also doch, dachte Rachel mit einem vagen Gefühl von Enttäuschung. Sie wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte, am liebsten wäre ihr nichts gewesen, aber das war so ziemlich die unbeholfenste und dümmste Anmache, die sie sich vorstellen konnte. Sie tat das Einzige, was ihr vernünftig erschien, und ignorierte seine Worte kurzerhand. »Worauf warten wir?«, fragte sie, als er auch nach einigen weiteren Sekunden noch keinen Finger rührte, um loszufahren, sondern sie nur weiter erwartungsvoll anblickte.
»Es wäre hilfreich, wenn Sie mir sagen könnten, wohin«, antwortete er.
Rachel hoffte, dass sie nur in Gedanken die Augen verdrehte, aber sie war ganz und gar nicht sicher. Anscheinend hatte er diesen Dialog in einem Roman gelesen oder in irgendeinem Hollywoodspielfilm gehört; in beiden mochte er sich ganz gut machen, aber aus seinem Mund klangen die Worte einfach nur unbeholfen, schmeichelhaft ausgedrückt. »Einfach geradeaus.« Rachel deutete durch die stiebenden Miniaturkatarakte auf der Windschutzscheibe nach vorne. »An der Ampel dann links. Es ist nicht weit.« Wenn er jetzt ein bedauerndes Gesicht macht und »Schade« sagt, dachte sie, steige ich aus und gehe zu Fuß weiter.
»Schade«, sagte ihr Helfer, aber er legte auch den Gang ein und fuhr so schnell los, dass sie keine Gelegenheit bekam, irgendetwas wirklich Dummes zu tun.
Die Ampel sprang von Grün auf Gelb, als sie noch fünfundzwanzig Meter davon entfernt waren, aber der junge Mann hinter dem Steuer bremste nicht etwa ab, sondern gab im Gegenteil plötzlich Gas, so dass der Wagen einen kleinen Satz machte und in einer hochspritzenden Wasserfontäne nach links abbog. Genau in dem Moment, in dem das Lichtsignal endgültig auf Rot umsprang. Rachel presste die Lippen aufeinander, um keine entsprechende Bemerkung zu machen. Sie versuchte sich in Gedanken zu beruhigen. Es war Sonntag, noch nicht einmal sieben Uhr, und die nächste Polizeiwache war in der Stadt, gute fünf Kilometer entfernt. Trotzdem ertappte sie sich dabei, einen nervösen Blick nach hinten zu werfen, und spürte einen heftigen Anflug von schlechtem Gewissen. Warum eigentlich? Selbst wenn sich gleich ein Polizeiwagen aus dem Nichts materialisierte und die berüchtigte rote Kelle aus dem Fenster geschwenkt wurde: Schließlich saß nicht sie hinter dem Steuer.
Ihr Retter musste ihre Nervosität bemerkt haben, denn er lächelte flüchtig und sagte: »Entschuldigung, aber ich hatte das Gefühl, Sie haben es eilig.«
»So?«, fragte Rachel. »Warum?«
»Wenn ich Sie wäre, würde ich erbärmlich frieren«, antwortete der Fahrer.
Damit kam er der Wahrheit näher, als er vielleicht glaubte, und für eine halbe Sekunde hasste Rachel ihn fast für diese Behauptung. Sie fror erbärmlich, aber sie hatte es irgendwie fertig gebracht, den Gedanken daran weit genug aus ihrem Bewusstsein zu verdammen, um die Kälte kaum noch zu spüren. Jetzt empfand sie sie dafür als doppelt schlimm. »Stimmt«, antwortete sie widerwillig. »Aber es ist wirklich nicht mehr weit. Das rote Haus, dort hinten links. Sehen Sie?« Sie bezweifelte, dass er es sah. Der Regen war wieder heftiger geworden. Die Scheibenwischer schafften es kaum noch, die Wassermassen von der Windschutzscheibe zu schaufeln, und das Glas begann von innen zu beschlagen. Auch die Heizung des Wagens war den Witterungsbedingungen eindeutig nicht gewachsen.
Dennoch nickte er, nahm den Fuß endlich wieder ein wenig vom Gas und steuerte den Wagen etwas mehr in die Straßenmitte hinaus. Sicherlich lag es nur am Wetter, aber die Analogie zu einem kleinen Boot drängte sich ihr auf, dessen Führer versuchte die Mitte des Flusses zu erreichen, um mit der Strömung mitzuschwimmen und nicht zerschmettert zu werden. Der Fahrer nahm den Fuß nun endgültig vom Gas und ließ den Wagen ausrollen,
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