Flut: Roman (German Edition)
Risiko?«
»Fünfundzwanzig Hinterwäldler ein paar Stunden gegen ihren Willen irgendwo festzuhalten ist eine Sache«, antwortete Benedikt verächtlich, »sie umzubringen eine ganz andere. So etwas erregt viel zu viel Aufsehen.« Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das würde er nicht wagen. Eine Stunde später würde jeder Carabinieri Italiens hier sein. Er wird dafür sorgen, dass er einen Vorsprung hat. Die Telefonleitungen zerstören. Sie einschüchtern. Vielleicht eine Geisel mitnehmen, um ein Druckmittel in der Hand zu haben. Aber er wird sie nicht umbringen.«
Das klang so logisch, dass sie keinerlei Grund hatte, an dieser Behauptung zu zweifeln, aber dennoch überzeugte es sie nicht. Benedikt war jedoch sichtlich nicht in der Stimmung, sich auf eine irgendwie geartete Diskussion einzulassen oder auch nur zu erlauben, dass sie seine Behauptung in Frage stellte. Er blieb noch eine knappe Sekunde in der Hocke sitzen und bewegte sich dann einer zu groß geratenen Krabbe gleich im Rückwärtsgang tiefer in den Wald hinein und richtete sich erst wieder auf, als er zwei Meter von den ersten Bäumen entfernt und damit außer Sichtweite jedes Beobachters war, der sich irgendwo drüben bei oder in den Häusern aufhalten mochte.
»Wie geht es weiter?«, erkundigte er sich.
Rachel warf einen nervösen, sichernden Blick zu dem Mann mit der Maschinenpistole hin, ehe sie antwortete. Natürlich war es völliger Unsinn, aber sie senkte ihre Stimme tatsächlich zu einem kaum noch hörbaren Flüstern, als habe sie Angst, sich zu verraten. »Wir müssen auf die andere Seite.«
»Durch den Wald?« Benedikt zog eine Grimasse. Natürlich gefiel ihm das nicht – so wenig wie ihr. Der Wald schob sich auf der Rückseite bis nahezu an die Gebäude heran; selbst sie wäre auf die Idee gekommen, dort einen Posten aufzustellen oder den Wald auf irgendeine andere Weise zu überwachen. Benedikt musterte sie noch einige Sekunden lang auf eine Art, als gebe er ihr die Schuld an den topografischen Gegebenheiten, dann ließ er ein resignierendes Seufzen hören und wandte sich noch einmal zu der Hand voll Häuser um. »Wenn ich wenigstens eine Waffe hätte …«
»Was dann?«, fragte Rachel. »Würdest du hinübergehen und sie alle erschießen?«
Benedikt sah sie beinahe betroffen an und rettete sich dann in ein nervöses Lächeln. »Natürlich nicht«, antwortete er. »Ich würde mich … sicherer fühlen.«
Rachel fragte sich, ob das einfach antrainiertes Machogehabe war oder ob er ihr vielleicht doch nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte ja erlebt, wozu er imstande war, wenn es sein musste, aber aus irgendeinem Grund hatte sie bisher immer als ganz selbstverständlich unterstellt, dass er diese Fähigkeiten nur im Notfall einsetzen würde, um sein oder schlimmstenfalls ihr Leben zu verteidigen. Seltsam, dass sie ihn trotz allem immer als harmlos eingestuft hatte – dabei hatte er ihr ganz offen erzählt, dass er sein Leben lang praktisch nichts anderes getan hatte, als das Handwerk eines Kriegers zu erlernen.
Sie verscheuchte den Gedanken. Es war eindeutig zu spät. Sie konnte nur noch hoffen, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.
Rachel ging los. Der Weg durch den Wald gestaltete sich so mühsam wie zuvor und sie kamen nun deutlich langsamer voran, weil Benedikt immer wieder stehen blieb, um zu lauschen und sich aufmerksam umzusehen. Rachel hielt das eine für so sinnlos wie das andere. Mit Ausnahme des weißen Schimmers rechts von ihnen und eines fast geometrischen Musters aus senkrechten Linien war nichts zu sehen und das monotone Rauschen des Regens verschluckte ohnehin jedes andere Geräusch. Dennoch bewegte sich Benedikt weiter auf diese ebenso zeit- wie kräfteraubende Weise. Vielleicht folgte er einfach einem Ritual, das ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, dass er gar nicht mehr anders konnte. Aber obwohl sie langsam von der Stelle kamen, kamen sie voran, und sie hatten ein weiteres Mal Glück – entweder hatten die Männer im Dorf keine Wachen aufgestellt oder der Regen und das praktisch nicht mehr vorhandene Tageslicht behinderten sie ebenso wie Benedikt und Rachel. Sie umgingen Castellino fast zur Gänze und erreichten unbehelligt den schmalen Weg, der sich vom Dorf aus weiter in die Berge hinaufschlängelte.
Er war nur noch zur Hälfte vorhanden. Auf seiner anderen Seite ergoss sich eine zischende, von weißem Schaum gekrönte Wasserfläche, die mit der
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