Flut: Roman (German Edition)
Geschwindigkeit eines Formel-Eins-Wagens talwärts schoss und noch vor wenigen Tagen ein schmaler Bach gewesen war, an keiner Stelle tiefer als einen Meter und weniger als die Hälfte des Jahres überhaupt vorhanden; sobald die Temperaturen über zwanzig Grad stiegen, pflegte er auszutrocknen oder zu einem Rinnsal zu werden, das kaum ausreichte, um sich nasse Füße zu holen. Jetzt tobte auf der anderen Seite des aufgeweichten Weges ein schäumendes Ungeheuer zu Tal, dessen bloße Berührung tödlich sein musste; Rachel konnte die mörderische Gewalt, mit der sich das Wasser seinen Weg bahnte, regelrecht fühlen.
Sie deutete nach links. Der Weg folgte dem Bachlauf auf einer Strecke von zwei- oder dreihundert Metern und endete dann abrupt. Als sie das letzte Mal hier gewesen war (großer Gott, das war vorgestern gewesen!), hatte es dort eine schmale gemauerte Brücke gegeben, die so alt wie das Dorf gewesen und ihr vollkommen unzerstörbar vorgekommen war. Jetzt gab es nicht einmal mehr eine Spur davon. Das Wasser hatte sie nicht nur eingerissen, sondern regelrecht verschlungen, als hätte sich die Natur vorgenommen, jegliche Spur menschlichen Tuns auszulöschen.
Rachels Mut sank noch weiter, als sie die zerstörte Brücke erreichten. Ihre erste Einschätzung war falsch gewesen – der Bach war keine fünf, sondern allenfalls vier Meter breit und vermutlich nicht einmal das. Dennoch bildete er ein unüberwindliches Hindernis. Der Weg ging auf der anderen Seite weiter, aber er war ebenso unerreichbar, als befände er sich auf der anderen Seite der Alpen.
Benedikt blickte eine Weile aus eng zusammengekniffenen Augen auf den Wildbach hinab, als könne er die Antwort in der schäumenden Wasserfläche ablesen. »Gibt es einen anderen Weg?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Rachel. Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Dann müssen wir es versuchen«, murmelte Benedikt.
Rachel starrte erst ihn, dann den außer Kontrolle geratenen Bach und dann wieder ihn an. Was hatte er vor? Wollte er sich wie Tarzan von Ast zu Ast schwingen, um den Bach zu überqueren? Selbst wenn er es gekonnt hätte – die Auswahl an Lianen war im Moment nicht besonders groß.
Statt nach einer nicht vorhandenen Liane zu greifen, streckte Benedikt jedoch wieder den linken Arm aus und hielt ihr die Hand entgegen. »Nimm meine Hand«, sagte er auffordernd, als sie zögerte und ihn nur verwirrt und ratlos ansah.
Rachel gehorchte. Benedikt ergriff ihre Finger mit fester Hand, machte einen vorsichtigen Schritt und tastete, in einer fast grotesken Haltung auf dem rechten Fuß balancierend, mit dem anderen im Wasser und im ersten Moment verstand sie überhaupt nicht, was er da tat. Dann aber begriff sie: Sein Fuß traf auf Widerstand, der sich dicht unter der schäumend-braunen Oberfläche verborgen hatte. Er hatte nach der weggerissenen Brücke gesucht und sie auch gefunden. Behutsam verlagerte er sein Gewicht weiter auf den linken Fuß und Rachel ergriff seinen Arm vorsichtshalber auch mit der zweiten Hand und stemmte die Füße in den Boden, nur um vorbereitet zu sein, falls er doch abrutschen und ins Wasser fallen sollte. Nicht, dass sie sich ernsthaft einbildete, ihn halten zu können.
Es war allerdings auch nicht nötig. Benedikt verlagerte sein Gewicht weiter und fand schließlich sicheren Halt, kaum einen Zentimeter unter der Wasseroberfläche. Es sah beinahe absurd aus, aber auch ein bisschen unheimlich, wie er mit weit gespreizten Beinen dastand, den rechten Fuß auf dem sicheren Ufer, während der andere auf dem Wasser zu ruhen schien.
»Woher … hast du das gewusst?«, murmelte sie unsicher.
Benedikt schien zu erraten, was hinter ihrer Stirn vorging. »Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, wie sich das Wasser an den Steinen bricht«, sagte er. »Falls du erwartet hast, dass ich über das Wasser wandeln kann oder so etwas, muss ich dich enttäuschen.« Er grinste und auch in seiner Stimme war ein durchaus scherzhafter Ton, doch die Worte waren trotzdem nicht dazu angetan, Rachels Unsicherheit zu beschwichtigen oder sie auch nur im Geringsten zu amüsieren – ganz im Gegenteil jagten sie ihr einen kurzen, eisigen Schauer über den Rücken. Sie hatte das fast körperliche Gefühl, dass etwas im Begriff war zu eskalieren.
Benedikt ließ ihre Hand los, trat zwei Schritte vom Ufer zurück und sah noch einmal sehr konzentriert auf das Wasser hinab. Dann rannte er ohne sichtbaren Ansatz los, machte einen weit ausgreifenden
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