Flut: Roman (German Edition)
Schritt, kam zielsicher auf den unter der Wasseroberfläche verborgenen Steinen auf und stieß sich mit aller Kraft ab. Fast elegant setzte er über den Bach, landete dreißig Zentimeter vom Wasser entfernt auf der anderen Seite und fing seinen Schwung mit einer federnden Bewegung ab. Ohne auch nur aus dem Gleichgewicht zu geraten, drehte er sich in einer Art komplizierter Pirouette auf der Stelle herum und streckte auffordernd beide Arme aus.
»Worauf wartest du?«
Rachel starrte ihn fassungslos an. »Du … du glaubst doch nicht etwa … dass …«
»Ganz genau das glaube ich«, sagte Benedikt. Er lächelte immer noch, aber in seinen Augen war jetzt eine fordernde Härte, die sie gerade noch nicht gesehen hatte. »Es ist nicht so schwer, wie es aussieht. Du musst nur deine Angst überwinden.«
»Niemals!« Rachel schüttelte ein paar Mal und sehr hektisch den Kopf und wich ganz im Gegenteil noch einen Schritt weiter vom Wasser zurück. Allein bei der Vorstellung, sein artistisches Kunststück nachmachen zu sollen, zog sich ihr Magen zu einem harten Klumpen zusammen.
»Du hast selber gesagt: Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Benedikt. »Glaub mir, es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht.«
Nicht so gefährlich, wie es aussieht bedeutete aber nicht automatisch, dass es nicht gefährlich war, dachte Rachel. Natürlich wusste sie, dass er Recht hatte. Sie musste gut drei Meter überwinden, selbst für jemanden wie sie, die ihr letztes Bundessportabzeichen vor fünfzehn Jahren gemacht hatte, keine unlösbare Aufgabe. Aber sie war nervös. Sie hatte Angst. Und sie war ziemlich sicher, dass sie vor lauter Aufregung danebentreten, ins Wasser fallen und jämmerlich ertrinken würde.
»Du kannst auch hier bleiben und auf mich warten«, sagte Benedikt. »Erklär mir den Weg und ich gehe allein zu deiner Freundin. Vielleicht glaubt sie mir ja.«
Sie würde ihm nicht einmal zuhören, dachte Rachel. Uschi hatte ihre eigene Art, mit ungebetenen Besuchern umzugehen. Außerdem war der Gedanke, allein hier zurückzubleiben, beinahe noch schlimmer als der an den bevorstehenden Sprung.
Rachel schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln, raffte all ihren Mut zusammen und rannte los. Die zwei Schritte, die sie hatte Anlauf nehmen können, waren viel zu wenig. Ihre Kraft würde nicht reichen. Sie würde auf dem schlammigen Ufer ausrutschen und ins Wasser stürzen oder den Stein verfehlen oder zu kurz springen und irgendwo in der Mitte des reißenden Gewässers landen. Es konnte überhaupt nicht gut gehen.
Aber es ging gut. Exakt an der gleichen Stelle wie Benedikt zuvor stieß sie sich ab, traf so zielsicher den verborgenen Stein unter dem Wasser, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geleitet, und beobachtete mit einem Gefühl sonderbar distanzierter Verblüffung, wie sie in einem flachen Bogen und fast schwerelos auf das andere Ufer zuflog. Ihr Sprung war nicht so kraftvoll gewesen wie der Benedikts. Sie erreichte das Ufer nicht ganz, sondern landete zwanzig oder dreißig Zentimeter davor im Wasser. Es war unglaublich kalt und sie spürte die schreckliche Kraft der Strömung, die sofort versuchte ihr die Beine unter dem Leib wegzureißen. Aber noch bevor sie stürzen konnte, war Benedikt heran, griff mit beiden Händen nach ihren Handgelenken und zog sie mit einem einzigen, fast brutalen Ruck auf den Weg hinauf.
»Siehst du?«, grinste er. »So schwer war das doch gar nicht.«
Rachel ersparte sich jede Antwort und massierte mit geschlossenen Augen abwechselnd ihre schmerzenden Handgelenke. Sie blieb so lange stehen, bis ihre Knie aufgehört hatten zu zittern, und machte dann eine Kopfbewegung den Weg hinab. Benedikt nickte. »Bleib ein Stück zurück«, bat er, während er sich herumdrehte und losging.
Sie fragte nicht, warum. Das war eine der Fragen, die nur zu weiteren Fragen und in der Folge zu Antworten führen konnten, die sie gar nicht hören wollte.
Während der ersten fünf Minuten kamen sie so schlecht voran, wie sie befürchtet hatte, dann aber erlebte sie eine Überraschung: Der Weg schlängelte sich in scheinbar willkürlichen Kehren und Windungen den Berg hinauf und der Untergrund wurde immer steiniger. Der wochenlange Regen hatte auch hier das Erdreich in einen braunen Schwamm verwandelt, in den sie anfangs bei jedem Schritt einsanken, manchmal so tief, das Rachel nicht ganz sicher war, ob es ihr beim nächsten Schritt noch gelingen würde, sich wieder daraus zu befreien. Je mehr
Weitere Kostenlose Bücher