Flut: Roman (German Edition)
zum anderen weniger als siebzig Meter und wäre das gewesen, was man zu Hause in Deutschland als Straßendorf bezeichnete, erhob sich aber ausnahmslos auf einer Straßenseite. Soweit Rachel wusste, hatte das Dorf nicht einmal vierzig Einwohner, die ausnahmslos vom Tourismus und von allem, was damit zusammenhing, lebten. Im Moment war keiner dieser knapp vierzig Bewohner zu sehen, was aber auch kein Wunder war – der Regen hatte nicht nur die Bewohner der wenigen Häuser dort drüben von der Straße gewaschen, sondern auch jeglichen Fremdenverkehr ertränkt. Doch das machte ihre Situation nicht weniger prekär. Während alle Bewohner in den Häusern und vermutlich ziemlich gelangweilt waren, musste nur jemand aus dem Fenster sehen, und wenn er dabei in ihre Richtung blickte, konnte er sie gar nicht übersehen. Der Waldrand bot keinerlei Deckung. Aber vielleicht machte sie sich auch einfach zu viele Sorgen. Der Weg durch den Wald hatte ihren ohnehin mitgenommenen Kleidern nicht gerade gut getan. Sie waren bis zu den Hüften so mit Matsch bespritzt, dass sich die Farbe ihrer Hosen nicht mehr nennenswert von der des Waldbodens unterschied, und in ihrer hockenden Haltung waren sie vermutlich so gut wie unsichtbar.
Umso weniger verstand Rachel die Nervosität, die Benedikt wie ein knisterndes elektrisches Feld ausstrahlte. Er hatte irgendetwas gespürt oder gesehen. Vielleicht vermisste er auch etwas.
Rachel geduldete sich, so lange es ihr möglich war, aber das war unter den gegebenen Umständen nicht sehr lange. Schließlich fragte sie: »Worauf warten wir?«
»Irgendetwas stimmt nicht«, murmelte Benedikt. »Ich kann es fühlen.«
Das war wieder einer von diesen Sätzen, die sie allenfalls in einem mittelmäßigen Kriminalfilm erwartet hätte und die bei genauerer Betrachtung eigentlich nur lächerlich klangen. Dummerweise weigerten sich die Worte, in ihr auch nur eine Spur von Amüsement auszulösen – vielleicht weil sie wusste, dass er Recht hatte.
»Und was?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht.« Benedikt hob die Schultern. »Irgendetwas … fehlt. Es ist zu still.«
»Die Leute hier leben vom Tourismus«, antwortete Rachel. »Und der liegt im Moment ziemlich am Boden, glaube ich.«
»Das ist es nicht.« Benedikt schüttelte überzeugt den Kopf. »Aber einen solchen Fehler würden sie niemals machen.«
»Welchen Fehler?«, fragte Rachel beunruhigt.
»All diese Leute …«, murmelte Benedikt, führte den Satz aber nicht zu Ende (was Rachel nicht unbedingt beruhigte, denn es gab ihrer Fantasie freien Raum für Spekulationen, die sie eigentlich lieber nicht betreiben wollte), sondern wich, ohne sich aus der Hocke zu erheben, zwei Schritte tiefer in den Schatten des Waldes zurück und wartete, bis sie auf die gleiche Weise wieder an seine Seite gerobbt war.
»In welchem Haus wohnt deine Freundin?«
»In gar keinem«, antwortete Rachel.
Benedikt blickte fragend und sie zögerte gerade lange genug, damit eine gehörige Spur von Verärgerung in diesem Blick erscheinen konnte, ehe sie weitersprach. Es fiel ihr nicht leicht. Obwohl sie natürlich wusste, dass sie viel zu weit gegangen war, um jetzt noch einen Rückzieher machen zu können, hatte sie immer noch das Gefühl, einen Fehler zu begehen. Es war immer noch nicht zu spät, um ihn zu korrigieren. »Es ist noch … ein Stück.«
Benedikt wartete eine Sekunde lang vergeblich darauf, dass sie weitersprach. »Das wird jetzt allmählich albern«, sagte er.
»Du hast ja Recht«, gestand Rachel. Dennoch beantwortete sie seine Frage nicht sofort, sondern machte eine Kopfbewegung zu den Häusern am gegenüberliegenden Straßenrand. »Was ist da drüben los? Was meinst du damit: Etwas stimmt nicht damit?«
»Es ist zu ruhig«, sagte Benedikt, ohne zu zögern. »Nirgendwo brennt Licht. Und neben dem Gasthaus sind frische Reifenspuren von mindestens zwei Wagen.«
»Und?«, fragte Rachel verständnislos.
»Aber es sind keine Autos da«, fuhr er fort.
Rachel drehte verwirrt den Kopf und sah wieder zum Ort hinüber. In dem aufgeweichten Boden neben dem Gasthaus konnte man tatsächlich Spuren sehen, aber sie fragte sich, woher Benedikt wissen wollte, dass sie frisch waren, und schon gar, dass sie von zwei unterschiedlichen Fahrzeugen stammten. In einem Punkt aber hatte er vollkommen Recht: Die dazugehörigen Automobile waren nirgends zu sehen. Und das war einigermaßen seltsam. Keines der wenigen Häuser, aus denen Castellino bestand, verfügte über den Luxus
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