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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sie sich jedoch dem Berggrat näherten, desto besser wurde es, denn der Regen hatte nahezu alles Erdreich weggespült und den blanken Fels darunter freigelegt, wie ein verärgerter Hausbesitzer, der mit einem Hochdruckreiniger den Weg durch seinen Vorgarten von Unkraut befreite. Auch der Fels war glatt und vom Wasser schlüpfrig geworden, sodass sie vorsichtig sein mussten, aber das Gehen fiel ihnen doch mit jedem Schritt etwas leichter und sie legten sogar ein wenig an Tempo zu. Nach einer Viertelstunde lag der Grat vor ihnen. Dahinter befand sich noch ein flaches, vielleicht einen Kilometer breites Tal, dem der Anstieg zu der ehemaligen Berghütte folgte, in der Uschi lebte.
    Kurz bevor sie ihn erreichten, blieb sie stehen. Benedikt, der die ganze Zeit einige Schritte vorausgegangen war, bemerkte es im ersten Moment gar nicht, hielt dann aber auch inne und drehte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihr herum.
    »Was ist?«
    Rachel hob die Schultern. Das Tal auf der anderen Seite des Grates war nur von Gras und einigen kümmerlichen Büschen bewachsen, und wenn sie aus dem Wald heraustraten, waren sie wieder unter freiem Himmel und sie hatte immer noch das unheimliche Gefühl, dass sich in den Wolken unsichtbare Augen verbargen, die gierig jeder ihrer Bewegungen folgten. Was natürlich Unsinn war. Ein solcher Unsinn, dass sie es nicht einmal jetzt wagte, Benedikt gegenüber etwas von ihren Befürchtungen zu erwähnen, sondern nur die Schultern hob und mit einem nervösen Lächeln weiterging.
    Benedikt musterte sie misstrauisch, vielleicht sogar ein bisschen besorgt, hob dann aber ebenfalls die Schultern und setzte seinen Weg fort – allerdings nur für genau zwei Schritte, dann blieb er abrupt stehen, hob warnend die Hand und schien für einen Moment zur Salzsäule zu erstarren. Nach zwei Sekunden wiederholte er seine warnende Bewegung, nur dass sie diesmal sehr viel heftiger, fast schon befehlend ausfiel, und deutete aus der gleichen Geste heraus nach links in den Wald.
    Seine plötzlich so veränderte Art, sich zu bewegen, machte Rachel klar, dass jetzt nicht der Augenblick für Diskussionen war. Widerspruchslos folgte sie ihm in die angegebene Richtung, vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Meter tief in den Wald hinein, wozu sie gute zwei oder drei Minuten brauchten. Regen und drei Wochen Dauersturm hatten auch von diesem Waldstück ihren Tribut gefordert, so dass ein Großteil der Bäume kahl war und auch das Unterholz im Grunde nur noch aus blattlosem Geäst bestand. Aber es war so dicht, dass sie eigentlich eine Machete gebraucht hätten, um sich einen Weg zu bahnen, und Rachel blieb allein zweimal so hoffnungslos stecken, dass es ihr ohne Benedikts Hilfe sehr schwer gefallen wäre, sich zu befreien. Schließlich wandte er sich wieder nach rechts, dem Grat und damit dem Waldrand zu. Oben angekommen, bedeutete er ihr mit einer knappen Geste, vorsichtig zu sein und ein Stück zurückzubleiben.
    Rachel beherzigte den ersten und ignorierte den zweiten Teil seiner Warnung. Das Geräusch des Regens, das sie permanent begleitet hatte, seit sie aus dem Wagen ausgestiegen waren, hatte mittlerweile eine Lautstärke erreicht, die sogar jedes nur halblaut gesprochene Wort verschluckte, so dass nun wirklich nicht die Gefahr bestand, dass jemand sie hörte. Dennoch trat sie so leise wie möglich an seine Seite und spähte zwischen den Bäumen hervor.
    Im ersten Moment hatte sie Mühe, sich zu orientieren. Das schmale Tal lag direkt unter ihr und sie rief sich mit einem Gefühl leiser Verwunderung ins Bewusstsein zurück, dass sie diesen Weg in den vergangenen Jahren Dutzende, wenn nicht Hunderte Male gegangen war, und doch hatten die vielleicht zwanzig Meter, die sie vom normalen Kurs abgewichen waren, die Perspektive vollkommen verschoben; sie erkannte den schmalen Einschnitt zwischen den beiden Hügeln kaum wieder und musste nach rechts blicken, um mühsam den Weg wieder zu finden, den sie normalerweise ging: eine fast mathematisch präzise Lücke zwischen den wahllos wuchernden Bäumen und Büschen, die sich, einer gedachten Geraden folgend, fortsetzte und zu einer zweiten, gleichartigen Bresche im Waldrand auf der anderen Seite des Tales führte. Alles erschien ihr fremd, als wäre sie noch niemals hier gewesen, und dazu kam, dass das Gefühl des Angestarrtwerdens mit einem Mal regelrecht explodierte. Unter und zwischen dem grauen Zwielicht, das sich über den Wald ausgebreitet hatte, schien plötzlich noch eine

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