Flut: Roman (German Edition)
Gelegenheit geben wollen, von selbst auf diesen Gedanken zu kommen und ihn zu Ende zu denken, blieb Benedikt noch zwei oder drei Sekunden weiter reglos hocken, bevor er sich aufrichtete und eine befehlende Geste mit der linken Hand machte, ohne den Blick von den Häusern zu nehmen. »Komm jetzt«, sagte er. »Aber keine hastigen Bewegungen.«
Rachel fand diese Vorsichtsmaßnahme reichlich übertrieben. So schlecht, wie die Sicht war, hätten sie die Straße vermutlich auch in einem orangerot lackierten Pferdefuhrwerk überqueren können, ohne gesehen zu werden. Aber jetzt war auch nicht der Moment, sich mit Benedikt zu streiten. Rasch und, wie er verlangt hatte, ohne auffällige Hast traten sie aus dem Wald heraus und überquerten die Straße. Der Wald reichte auch auf dieser Seite bis fast direkt an die Straße heran, war aber weniger dicht und das Gehen fiel hier deutlich leichter. Der Boden war auch hier aufgeweicht, anders als auf dem Stück hierher aber von einem so dichten Geflecht von Wurzeln durchzogen, dass sie nicht mehr bei jedem Schritt bis über die Knöchel in klebrigen Morast einsank, sondern sich fast bewegte wie auf einem straff gespannten Trampolin.
Sie gingen sicherlich hundert Meter tief in den Wald hinein, wenn nicht mehr, bevor Benedikt sich nach rechts und wieder in Richtung des Dorfes wandte. Die Straße war längst hinter ihnen verschwunden. Um sie herum herrschte ein graues Zwielicht, in dem nicht nur die Umrisse der Dinge, sondern auch die Dimensionen und damit die Entfernungen verschwammen, und sie fragte sich vergeblich, wie Benedikt überhaupt die Orientierung behielt. Sie konnte längst nicht mehr sagen, in welche Richtung vorn oder hinten, rechts oder links führten, aber Benedikt schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Er bewegte sich langsam und mit höchster Vorsicht und blieb immer wieder stehen, um mit schräg gehaltenem Kopf und geschlossenen Augen zu lauschen, schien aber nicht den geringsten Zweifel an der Richtung zu haben.
Auch Rachels Zeitgefühl hatte sich längst in der grauen Nässe aufgelöst, die sie umgab. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass es kaum mehr als zehn Minuten gewesen sein konnten, aber glaubte sie ihrem subjektiven Empfinden, dann mussten sie Stunden unterwegs gewesen sein, bis sie sich Castellino endlich wieder so weit genähert hatten, dass das schmutzig gewordene Weiß der gekalkten Wände durch die Schlitze der senkrechten grauen Jalousie schimmerte, die der Wald vor ihnen bildete. Benedikt musste ihr jetzt nicht extra bedeuten, vorsichtiger zu sein. Sie schloss zwar etwas weiter zu ihm auf, schlich aber nun fast auf Zehenspitzen und bewegte sich ganz instinktiv auf die gleiche verstohlene Art wie er. Zwei Meter vom Waldrand entfernt hielten sie an und ließen sich wieder in die Hocke sinken.
Benedikt sagte nichts, deutete aber mit dem linken Arm nach vorne und Rachel tat ihm in Gedanken dafür Abbitte, an seinen Fähigkeiten oder seinem Gespür gezweifelt zu haben.
Sie hatten sich der Ansammlung kleiner Häuser von der Rückseite her genähert und sie sah, dass er Recht gehabt hatte: Hinter dem Gasthaus standen zwei Geländewagen. Einer war so gut wie neu, der andere schien beinahe so alt zu sein wie der Fiat, mit dem sie hierher gekommen waren, und beide hatten italienische Kennzeichen; Rachel nahm an, dass man sie irgendwo ganz in der Nähe gestohlen hatte. Zwischen den beiden Wagen stand eine einzelne Gestalt, die sich zum Schutz vor dem strömenden Regen in eine schwarze Pelerine gehüllt und einen breitkrempigen Hut aufgesetzt hatte. Trotz der Entfernung und der tanzenden Regenschleier konnte Rachel die Maschinenpistole deutlich erkennen, die der Mann locker in der linken Hand trug. In der rechten hielt er eine qualmende Zigarette, die er unentwegt hin und her drehte; wohl, um sie vor dem Regen zu schützen.
»Du hattest Recht«, murmelte sie.
Benedikt maß sie mit einem Blick, der leise Verwunderung darüber ausdrückte, dass sie jemals daran gezweifelt zu haben schien. Er sagte nichts.
»Du hast mir immer noch nicht geantwortet«, sagte Rachel.
»Worauf?«
»Die Leute im Dorf«, antwortete Rachel nervös. »Ich meine, du … du kennst deine Kameraden doch besser als ich. Sie haben sie nicht alle umgebracht, oder?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Benedikt ruhig. »Aber eigentlich glaube ich es nicht. Zu auffällig. Darkov ist kein Mann, der unnötige Risiken eingeht.«
»Und du meinst, ein ganzes Dorf zu kidnappen ist kein
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