Flut: Roman (German Edition)
mich wohl lächerlich machen, wenn ich behaupten würde, ein gottesfürchtiges Leben geführt zu haben. Ich habe gegen jedes der Zehn Gebote verstoßen – abgesehen vielleicht von einem einzigen –, aber das hindert mich nicht daran zu glauben, dass diese Welt und alles, was auf ihr geschehen ist und noch geschieht, viel zu kompliziert und einmalig und wertvoll ist, um keinen Sinn zu haben. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht ist der einzige Sinn des Lebens das Leben selbst. Vielleicht gibt es keinen Gott, keine Ewigkeit und keinen höheren Plan; kein Ziel. Wenn es so ist, spielt es auch keine Rolle. Aber das glaube ich nicht.«
»Wieso sind Sie dann Feinde?«, fragte Uschi mit einem verwirrten Blick in Torbens Richtung.
»Eine gute Frage«, sagte Darkov. »Vielleicht gerade weil wir beide an dasselbe glauben. Mit einem Unterschied.«
Er warf einen langen, auffordernden Blick über den Tisch in Torbens Richtung, aber dieser reagierte anders, als er vielleicht erwartet und Rachel gehofft hatte. Sein Gesicht war ein Ausdruck purer Qual, doch wenn Darkov mit seinen Worten einen bestimmten Zweck verfolgt hatte, so erreichte er sein Ziel nicht. Nach endlosen Sekunden nahm Torben die Hände von der Tischkante und senkte den Blick. Als er den Kopf wieder hob, hatte er sich wieder vollkommen in der Gewalt. Er wirkte immer noch alt und müde, aber er strahlte plötzlich auch wieder die Würde und Macht aus, die man von einem Mann in seiner Position erwartete.
»Genug«, sagte er; nicht einmal besonders laut oder energisch, aber auf eine Art, die keinen Widerspruch zuließ. »Ich habe mich getäuscht. Es war ein Fehler, Sie hierher bringen zu lassen. Ich entschuldige mich dafür. Auch bei Ihnen.«
Die letzten Worte galten Rachel und sie hätte es auch gewusst, wenn er sie dabei nicht angesehen hätte. Sie nickte nur leicht und versuchte wieder Benedikts Blick zu erhaschen. Und wieder gelang es ihr nicht.
»Dann lassen Sie mich doch wieder in Ketten legen, Heiliger Vater«, sagte Darkov höhnisch. »Es sei denn, Sie ziehen die altmodische Methode vor. Aber die Zeiten der Inquisition sind ja wohl hoffentlich vorüber.«
Diesmal gelang es ihm nicht mehr, den Papst zu verletzen. Es würde ihm auch nicht wieder gelingen, dachte Rachel. Darkov selbst hatte es offensichtlich noch gar nicht gemerkt, aber er hatte ihm schon alles angetan, was man einem Menschen antun konnte. Wie immer dieser Tag enden würde – falls es ein Morgen gab, dann nicht für Johannes Petrus. Selbst wenn er körperlich überlebte, würde er nur eine leere Hülle sein. Seine Seele war gestorben, hier und jetzt, in diesem Raum und in diesem Augenblick. Er würde seine Aufgabe zu Ende bringen – wie auch immer sie aussehen mochte –, aber er hatte einen entsetzlichen Preis dafür bezahlt.
»Warum?«, fragte sie leise.
»Weil jemand da sein muss, der die Menschen leitet«, sagte Johannes Petrus leise. »Was ich vorhin gesagt habe, war die Wahrheit. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Niemand weiß es. Aber etwas wird geschehen. Gott schickt seine Sintflut. Die Welt wird zerstört und neu erschaffen werden und jemand muss da sein, um sie anzuleiten. Die Aufgabe ist zu groß, um von einem Menschen allein bewältigt zu werden.«
»Sie meinen, einem Menschen wie mir«, sagte Darkov böse. Er lachte hart. »Mir ist klar, dass Sie mir nicht vertrauen können. Oder auch nur glauben, Rachel. Aber das brauchen Sie auch nicht. Hören Sie diesem verzweifelten Mann da einfach nur zu. Sehen Sie ihn an und Sie werden wissen, was ich meine.«
Alles in Rachel sträubte sich dagegen, Darkov auch nur diesen kleinen Triumph zu gönnen – aber sie drehte trotzdem den Kopf und tat, was er von ihr verlangt hatte. Und er hatte Recht: Sie saß vielleicht einem der mächtigsten Männer dieser Welt gegenüber und trotzdem sah sie in diesem Moment nicht mehr als genau das, als was Darkov ihn bezeichnet hatte – einen verzweifelten, gebrochenen alten Mann, der längst begriffen hatte, dass alles, woran er zeit seines Lebens geglaubt und wofür er mit all seiner Kraft und all seinen Träumen gearbeitet hatte, falsch gewesen war. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass ihre Gedanken in leuchtenden Buchstaben auf ihrer Stirn geschrieben sein mussten, und drehte mit einem Ruck den Kopf, um wieder Darkov anzusehen.
Der russische Söldnergeneral lachte ganz leise. »Wissen Sie, wenn es nicht so grausam wäre, dann wäre es ein Witz. Vielleicht der größte Witz der
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