Flut: Roman (German Edition)
schiere Entsetzen über diese Einsicht lähmte sie so total, dass sie abrupt stehen blieb und sich zu ihren Verfolgern herumdrehte. Einer der beiden Männer rannte noch immer mit weit ausgreifenden Schritten in ihre Richtung. Sein Mantel war aufgeklafft und wehte im Regen hinter ihm her; er sah aus wie eine Figur aus einem Wildwestfilm: der Revolverheld, dessen Staubmantel im Wind hinter ihm flatterte, während er seine menschliche Beute verfolgte. Rachels Blick suchte den zweiten Mann und ihr wurde schlagartig klar, wieso sich ihr ausgerechnet diese Assoziation aufgedrängt hatte: Ihr bewusster Verstand hatte immer noch nicht realisiert, was eigentlich geschah – vielleicht weil die Vorstellung einfach zu absurd war; so etwas geschah in zweitklassigen Romanen oder drittklassigen Spielfilmen, aber doch nicht in der Wirklichkeit! –, aber ihre Fantasie ließ ihr auf diese Weise eine Warnung zukommen, dass es bitter ernst war. Todernst, um genau zu sein.
Der zweite Mann war stehen geblieben und hatte die Beine leicht gespreizt, um festen Stand auf dem unsicheren Boden zu haben, und beide Arme mit durchgedrückten Ellbogen in ihre Richtung gestreckt. Seine zusammengelegten Hände hielten etwas Kleines, Langgestrecktes und Dunkles, etwas, das ihre Augen sehr wohl sahen, während ihr Verstand sich immer noch weigerte, es zu erkennen. Rachel hörte im Rauschen des Regens nicht den mindesten Laut, aber sie sah ein winziges, orangerotes Flackern und etwas wie eine blasse Rauchwolke, die sich von der Spitze des Gegenstandes löste, mit dem der Mann auf sie zielte. Und dann schrammte ein rotglühender Draht über ihren rechten Oberarm. Der Schmerz war nicht einmal so schlimm. Sie spürte einen heftigen Schlag, der sie zurück- und einen ungeschickten, stolpernden Schritt zur Seite torkeln ließ, und einen vibrierenden roten Stich, der sich ohne Umweg in direkter diagonaler Linie von ihrem Bizeps bis ins Herz grub. Aber was sie aufschreien ließ, das war weder das eine noch das andere, sondern die Erkenntnis, vor der sie die Augen nun nicht mehr verschließen konnte: der Mann hatte auf sie geschossen! Und er würde es wieder tun. In seiner Waffe befanden sich noch mindestens vier weitere Patronen – wahrscheinlich sogar deutlich mehr – und er hatte schon mit seinen beiden ersten Schüssen bewiesen, dass er ein ausgezeichneter Schütze war. Bevor er seine Treffsicherheit erneut und vielleicht noch drastischer unter Beweis stellen konnte, wirbelte Rachel herum und rannte Haken schlagend weiter. Eine dritte Kugel zerfetzte Blätter und dünne Äste, diesmal aber weit genug entfernt, um keine wirkliche Gefahr darzustellen, dann hatte sie den Wald erreicht und war zumindest so weit in Sicherheit, dass der Mann das Feuer einstellte. Was allerdings ganz und gar nicht hieß, dass sie auch tatsächlich in Sicherheit war.
Rachel blieb für einen Moment stehen und sah sich mit wachsender Verzweiflung um. Obwohl sie seit beinahe dreißig Jahren hier lebte, hatte sie den Wald praktisch nie betreten. Nicht einmal als Kind. Sie war oft am Waldrand spazieren gegangen, hatte das dichte Unterholz mit seinem dornigen Gestrüpp und den zähen Ranken aber stets gemieden und viel mehr noch die Dunkelheit, die dazwischen lauerte. Jetzt schien es sich völlig verändert zu haben: Sie erinnerte sich an ein scheinbar undurchdringliches Dickicht ineinander gekrallter Äste und nachtschwarzer Schatten, doch das, was vor ihr lag, hatte nichts mehr mit ihrer Erinnerung zu tun. So, als hätten drei Wochen Dauerregen nicht nur ausgereicht, den Waldboden knöcheltief aufzuweichen, sondern auch die Schatten weggespült und etliche Bäume dazu. Die einzelnen Stämme standen so weit auseinander, dass man bequem mit einem Wagen hätte hindurchfahren können, und das Gestrüpp, an das sie sich zu erinnern glaubte, war praktisch nicht vorhanden – es war gerade noch dicht genug, um sie zu behindern und aus ihrer rasenden Flucht ein ungeschicktes Stolpern und Ringen ums Gleichgewicht zu machen, keinesfalls aber so dicht, dass man sich irgendwo verstecken konnte. Dabei würden ihre Verfolger in dieser Umgebung vermutlich rasch aufholen, weil sie ihre überlegenen Körperkräfte einsetzen konnten, um einfach durch Hindernisse hindurchzubrechen, die sie Kraft und Zeit kosteten. Rachel begriff, dass sie vielleicht einen Fehler gemacht hatte, ausgerechnet hierher zu fliehen. Ein Fehler, den sie möglicherweise mit dem Leben bezahlen würde. Draußen auf dem Feld
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