Flut: Roman (German Edition)
oder der Straße bestand zumindest noch die geringe Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand vorbeikam, der eingriff oder zumindest die Polizei alarmierte. Hier drinnen im Wald konnten die beiden Männer mit ihr machen, was immer sie wollten. Und sie hatte mittlerweile eine ziemlich deutliche Vorstellung davon, was das war.
Rachel dachte jedoch nicht daran aufzugeben. Sie hörte Schritte und das Geräusch brechender Zweige hinter sich – unangenehm nah hinter sich –, verschwendete jedoch keine Zeit damit, sich umzudrehen, sondern rannte nur noch schneller. Vielleicht hatte sie doch noch einen winzigen Vorteil. Sie kannte sich hier aus, während ihre Verfolger ganz bestimmt nicht aus dieser Gegend stammten; ein Unterschied, den sie möglicherweise zu ihren Gunsten nutzen konnte. Der Wald begrenzte den Streifen Ackerland auf seiner gesamten Länge von gut drei oder vier Kilometern, aber er war nicht besonders tief; vielleicht fünfzig Meter an der dichtesten Stelle und kaum mehr als zwanzig an der schmalsten. Auf seiner Rückseite erhob sich eine drei Meter hohe, verwilderte Böschung; künstlich angelegt vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren, als das Land noch Geld gehabt hatte und der Bau einer Autobahntrasse begonnen worden war, ohne dass die geringste Chance bestand, sie jemals fertig zu stellen. Wenn es ihr gelang, diese Böschung zu erreichen und auf die andere Seite zu kommen, war sie wieder in der Zivilisation, vielleicht in Sicherheit. Wenn.
Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, auf das ein bösartiger Regisseur nur gewartet hatte, drangen die stampfenden Schritte ihres Verfolgers nun wieder verstärkt in ihr Bewusstsein. Rachel warf im Rennen einen Blick über die Schulter zurück und stellte erschrocken fest, dass er mittlerweile aufgeholt hatte – der Mann war keine fünf Meter mehr entfernt, und er kam mit jedem Schritt näher. Zum ersten Mal konnte sie sein Gesicht erkennen. Es war dunkel und verzerrt vor Anstrengung und Zorn; buschige Augenbrauen, ein kantiges Kinn und Wangen, auf denen ein dunkler Schimmer lag, gegen den vermutlich auch der beste Rasierapparat machtlos war. Soweit sie das nach einem einzigen Blick beurteilen konnte, ein slawischer Typ – Russe, Bulgare, Rumäne oder sonst was, auf jeden Fall niemand, den sie je zuvor hier gesehen hatte. Was um alles in der Welt wollte er von ihr?
Rachel schlug einen blitzschnellen Haken nach links, duckte sich unter einem tief hängenden Ast hindurch, dessen Blätter schwer von Regenwasser waren, und hob instinktiv die Hand, um ihn ein Stück mit sich zu ziehen. Sie selbst rechnete am allerwenigsten damit, aber die Aktion hatte Erfolg: Als sie den Ast losließ, schnellte er wie eine Peitsche zurück und einen Sekundenbruchteil später nur erscholl ein klatschender Laut, gefolgt von einem wütenden Grunzen und dem dumpfen Geräusch, mit dem ein schwerer Körper zu Boden fällt.
Sie sah sich noch einmal im Laufen um und aus dem kurzen Hochgefühl, mit dem sie der hörbare Erfolg ihrer Attacke erfüllt hatte, wurde das genaue Gegenteil. Ihr Verfolger war tatsächlich gestürzt, sprang aber bereits wieder mit einer behänden Bewegung in die Höhe. In seinem Gesicht prangte ein halbes Dutzend blutiger Schrammen und aus der grimmigen Entschlossenheit, die sie gerade in seinen Augen gelesen hatte, war Schlimmeres geworden: Als er weiterstürmte, war er deutlich schneller als zuvor, keineswegs langsamer.
Cleveres Mädchen, dachte Rachel sarkastisch, das hast du wirklich fein hingekriegt! Jetzt hatte sie den Kerl erst richtig wütend gemacht. Sie versuchte ebenfalls, schneller zu laufen, kam aber nur aus dem Tritt und fiel wieder in ihr altes Tempo zurück.
Sie hatte den Wald fast durchquert. Vor ihr lagen noch zwei oder drei Baumreihen, ein Dickicht mit Unkraut und wild wuchernden Büschen und eine mit kleineren Bäumen bewachsene Böschung, die zur alten Autobahntrasse hinaufführte. Sie legte nun doch einen kurzen Endspurt ein, stürzte zwischen den Bäumen hervor und drehte instinktiv den Kopf zur Seite, als ihr der Regen wie eine nasse Hand ins Gesicht klatschte. Trotzdem jagte sie, ohne langsamer zu werden, die Böschung hinauf.
Allerdings nur zwei Schritte weit. Das wild wuchernde Gras war so rutschig wie Schmierseife. Sie glitt aus, fiel hilflos nach vorne und prellte sich schmerzhaft beide Handgelenke, als sie versuchte, ihren Sturz irgendwie aufzufangen. Dennoch versuchte sie sofort, sich wieder in die Höhe zu stemmen und die
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