Flut: Roman (German Edition)
bis zum nächsten Haus und zu dem verwilderten Vorgarten, über dessen Anblick sie sich seit Jahren ärgerte. Nun erschien er ihr wie ein Geschenk des Himmels, denn die wild wuchernden Sträucher und Büsche boten genug Verstecke. Wenn sie es bis dorthin schaffte, war sie in Sicherheit.
Sie schaffte es nicht. Hinter ihr wurden keine Schritte laut. Es erscholl kein zorniger Schrei, nicht einmal ein Rufen, aber gerade als sie sich fast in Sicherheit wähnte, hörte sie das Brummen eines Motors. Rachel stürmte weiter, sah über die Schulter zurück und registrierte mit einem seltsam distanzierten Schrecken, dass der Kombi zurückgesetzt hatte, um auf der schmalen Straße zu wenden. Sie hatte ganz automatisch angenommen, dass der Mann, den sie auf der Rückseite des Grundstückes gesehen hatte, der Fahrer des Wagens wäre, aber das stimmte nicht. In dem Kombi hatten vier Männer gesessen.
Rachel machte eine Bewegung nach links und steuerte jetzt nicht mehr das nutzlos gewordene Versteck an, sondern die gegenüberliegende Straßenseite mit dem brachliegenden, aufgeweichten Feld. Es war keine bewusste Entscheidung, denn sie war viel zu sehr in Panik, um auch nur noch einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können, aber dennoch die vermutlich einzig richtige, die sie in diesem Moment treffen konnte. Der Wagen hatte sein Wendemanöver beendet und beschleunigte jetzt so rücksichtslos, dass die Räder auf dem nassen Asphalt für einen Moment durchdrehten, ehe sie fassten und der Kombi einen regelrechten Satz in ihre Richtung machte. Der dröhnende Motor verriet ihr zweierlei: zum einen, dass es ein Wagen älterer Bauart war, der noch nicht über elektronische Spielereien verfügte, die ein Durchdrehen der Reifen verhinderten (aus irgendeinem Grund erschien ihr diese Erkenntnis wichtig, auch wenn sie nicht sagen konnte, warum), zum anderen, dass es dem Mann hinter dem Steuer offenbar vollkommen gleichgültig war, ob er Aufsehen erregte oder nicht. Es kam ihm nur darauf an, sie einzuholen – und das würde binnen weniger Sekunden der Fall sein. Sie erwog für einen ganz kurzen Moment, laut um Hilfe zu schreien, verwarf diesen Gedanken aber fast sofort wieder, und für einen noch kürzeren Augenblick, alles auf eine Karte zu setzen und bis zur Kreuzung zu rennen. Beides war völlig sinnlos. Niemand hier würde ihr helfen können und die Hauptstraße lag immer noch wie ausgestorben vor ihr. Außerdem war sie mittlerweile ziemlich sicher, dass es ihren Verfolgern herzlich egal war, ob sie beobachtet wurden oder nicht.
Sie verschwendete keine Zeit mehr damit, sich nach ihnen umzudrehen, aber das Motorengeräusch war bereits hörbar näher gekommen, der Wagen konnte allerhöchstens noch zwanzig oder dreißig Meter weit entfernt sein, wenn überhaupt. Rachel mobilisierte alle Kräfte, schlug einen Haken nach links und überquerte die Straße mit drei, vier weit ausgreifenden Sätzen. Unter ihren Füßen spritzte zuerst Wasser und dann dünner Schlamm auf, als sie in das Feld hineinstürmte. Für einen schrecklichen Moment hatte sie das Gefühl, in klebrigen Teer getreten zu sein. Sie verlor den rechten und eine halbe Sekunde später den linken Schuh, warf sich mit einer verzweifelten Anstrengung nach vorn und kam frei. Das Feld lag wie ein halb erstarrter See aus braunem Brackwasser vor ihr, lang wie die Straße und mehr als einen Kilometer tief, bevor es in einem kleinen, verwilderten Waldstückchen endete. Wenn sie es bis dorthin schaffte, war sie in Sicherheit. Sie war in dieser Gegend aufgewachsen und kannte jeden Busch und jeden Baum in diesem Wald.
Rachel hatte kaum zehn Schritte getan, als hinter ihr Bremsen quietschten. Gehetzt blickte sie über die Schulter zurück und sah, dass der Volvo unmittelbar hinter ihr am Straßenrand zum Stehen gekommen war. Die Tür flog auf und eine Gestalt in einem schlecht sitzenden, dunklen Anzug stürzte heraus. Der Mann hatte dunkles Haar und war sehr groß und muskulös, soweit sie das erkennen konnte, und er war ihr vollkommen fremd. Aber er zögerte keinen Sekundenbruchteil, zur Verfolgung anzusetzen. Es blieb bei dem Versuch. Dem Mann erging es nicht besser als ihr, aber die Folgen waren ungleich katastrophaler. Er setzte mit einem Sprung über den schmalen Bürgersteig hinweg, versank bis zu den Knöcheln im Schlamm und versuchte sich loszureißen, indem er den Schwung seiner eigenen Bewegung nutzte, aber damit machte er alles nur noch schlimmer. Wäre Rachel in der Verfassung
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