Flut: Roman (German Edition)
sie weniger Glück hatten. Ein weiterer Wagen kam ihnen entgegen und passierte sie in größerem Abstand als vorhin der Mercedes. Rachel hörte Reifen hinter sich kreischen, aber sie widerstand der Versuchung, in den Spiegel zu sehen. Der Mercedes musste längst gewendet haben und holte vermutlich bereits auf. Noch ein paar Augenblicke und ihre Verfolger waren nahe genug, um auf sie zu schießen – falls sie es nicht vorzogen, sie kurzerhand von der Straße zu rammen, um die Sache danach und in aller Ruhe zu Ende zu bringen. Obwohl sie wusste, wie sinnlos es war, versuchte sie noch einmal das Gaspedal weiter durchzutreten. Als einziges Ergebnis schnellte die Temperaturanzeige im Armaturenbrett schlagartig in die Höhe und eine zischende graue Dampfwolke quoll unter der eingedrückten Motorhaube hervor und wurde vom Fahrtwind weggerissen. Wie lange hält der Motor ohne Kühlung durch?, dachte sie verzweifelt. Zehn Sekunden? Zwanzig? Ganz bestimmt nicht länger als eine Minute.
Über all dem Lärm konnte sie jetzt wieder deutlich das Heulen der Polizeisirenen hören und diesmal war sie sicher, dass sie näher kamen. Jemand hatte endlich die Polizei alarmiert. Aber sie würde zu spät kommen. Ein Erinnerungsfetzen schoss ihr durch den Kopf, so unpassend, wie es nur ging, und zweifellos durch nichts anderes als ihre Hysterie ausgelöst: Sie hatte einmal zu ihrer Freundin Tanja gesagt, dass sie sich als Kind nichts sehnsüchtiger als einen Wildwestfilm mit John Wayne gewünscht hätte, in dem die Kavallerie zu spät kam, um die tapferen Siedler vor dem Überfall der blutrünstigen Indianer zu beschützen. Wie es aussah, sollte ihr Wunsch jetzt in Erfüllung gehen! Die Polizei kam zu spät. Es war nicht ihre Schuld. Ganz plötzlich wurde Rachel klar, dass seit dem Moment, in dem sie aus ihrer Garage gestürmt war, allerhöchstens fünf Minuten vergangen sein konnten, vermutlich sogar weniger, auch wenn es ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam. Dennoch würden die Beamten vermutlich gerade noch rechtzeitig eintreffen, um ein brennendes Autowrack mit zwei verkohlten Leichen vorzufinden. Bei der späteren Obduktion würde sich herausstellen, dass beide durch saubere Kopfschüsse hingerichtet worden waren, was wiederum Anlass für die wildesten Spekulationen (und selbstverständlich Verdächtigungen) geben würde. Die Vorstellung, umgebracht zu werden, ohne auch nur zu wissen, warum, war vielleicht das Schlimmste an allem. Rachel hatte keine übergroße Angst vor dem Tod (und warum auch? Entweder es gab ein Danach, dann hatte sie nichts zu befürchten, oder da war rein gar nichts, wovon sie ergo auch nichts mitbekommen würde), wohl aber große Angst vor dem Vorgang des Sterbens – und die Vorstellung, so vollkommen sinnlos hinweggefegt zu werden, war einfach mehr, als sie akzeptieren konnte. Sie musste es irgendwie schaffen, und sei es nur wegen des halb bewusstlosen jungen Mannes neben ihr, der sein Leben riskiert hatte, um ihres zu retten.
Der Wagen näherte sich einer Kreuzung, und auch das Sirenengeräusch war deutlich lauter geworden. Nahe genug jetzt, sie doch wieder eine verzweifelte Hoffnung schöpfen zu lassen. Vielleicht kam die Kavallerie doch noch rechtzeitig! Aber das Motorengeräusch hatte sich auch auf beunruhigende Weise verändert: Es klang jetzt schrill und gequält, ein Laut wie von Kugellagern, die sich festfraßen, und der Gestank nach heißem Metall war unerträglich geworden. Noch ein paar Sekunden. Sie kuppelte aus, als sie spürte, dass der Motor nun unmittelbar davor war, sich festzufressen, und der Opel wurde für einen winzigen Moment tatsächlich noch einmal schneller, während er auf die Kreuzung hinausschoss. Die Ampel stand auf Rot und Rachel musste für eine Sekunde gegen den absurden Impuls ankämpfen, auf die Bremse zu treten. Unmittelbar hinter ihr kreischten Bremsen, dann erscholl ein dumpfes Krachen und das Heulen der Polizeisirene verstummte mit einem klagenden Misslaut. Der Opel rollte noch ein Stück weiter, prallte vor den Bordstein auf der anderen Straßenseite und kam zitternd zum Stehen. Rachel sank erschöpft hinter dem Steuer zusammen. Ihre Stirn prallte gegen das harte Plastik, das schlüpfrig von Darkovs Blut und ihrem Schweiß war, und für einen Moment begann sich die Schwärze hinter ihren geschlossenen Lidern zu drehen. Es war noch nicht wirklich vorbei. Die fast vollkommene Stille, die dem letzten, eher sanften Aufprall gefolgt war, existierte nur in ihrem Inneren;
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