Flut: Roman (German Edition)
er gekommen war. Er war bei Bewusstsein, aber er starrte aus glasigen Augen ins Leere und seine Kopfwunde blutete so heftig, dass es mittlerweile aussah, als hätte man ihm die Haut vom Gesicht gezogen. Hier galt es, selbst Hand anzulegen. Ungeschickt, aber sehr schnell wuchtete sie seinen schlaffen Körper so weit, wie es ging, zu sich herüber auf den Sitz, dann stieg sie aus, warf die Tür ins Schloss und eilte um den Wagen herum. Es gab noch einmal einen kurzen, angsterfüllten Moment, nachdem sie den Zündschlüssel herumgedreht hatte und der Anlasser wimmernd durchdrehte, ohne dass irgendetwas geschah, aber letzten Endes hielt ihre Glückssträhne doch noch weiter an: Der Motor erwachte stotternd und spuckend zum Leben und als sie den Gang hineinhämmerte und Gas gab, setzte sich der Wagen gehorsam in Bewegung. Nicht allzu gut und alles andere als schnell. Etwas kreischte mit nervenzerfetzender Lautstärke und in einer Frequenz, die keinerlei Zweifel daran aufkommen ließ, dass in Kürze etwas (vermutlich Wichtiges) endgültig kaputt gehen würde, und das Lenkrad teilte wilde Stöße an ihre ohnehin schmerzenden Handgelenke aus. Auf nur drei intakten Reifen gelang es ihr kaum, den Wagen in der Spur zu halten. Der intensive Geruch von verbranntem Gummi hüllte sie ein und unter dem vorderen rechten Kotflügel des Wagens stoben Funken hoch. Aber er fuhr, nicht schnell, aber deutlich schneller, als ein Mann rennen konnte, und das allein war es, was im Moment zählte.
Auch schneller, als eine Pistolenkugel flog? Rachel versuchte den hässlichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verjagen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte noch immer nicht die leiseste Vorstellung, wer diese Männer waren, geschweige denn, warum sie sich solche Mühe gaben, sie umzubringen. Aber ihr war eines vollkommen klar: dass sie mit schrecklicher Entschlossenheit zu Werke gingen. Und auch wenn ihr der Gedanke völlig absurd vorkam: Sie war sicher, dass nichts außer ihrem eigenen Tod sie daran hindern konnte, ihr Vorhaben zu Ende zu bringen.
Es fiel ihr jetzt immer schwerer, den Wagen unter Kontrolle zu behalten. Der zerschossene Reifen hatte sich wohl endgültig in Wohlgefallen aufgelöst, denn es stank nicht mehr nach verbranntem Gummi, dafür aber hatte der Funkenschauer deutlich zugenommen und aus dem Kreischen von Metall war ein Geräusch wie von einer blockierenden Diesellok geworden, die sich anschickte, aus den Schienen zu springen. Obwohl der rechte Vorderreifen geplatzt war, versuchte der Wagen immer wieder, nach links und zur Straßenmitte hin auszubrechen. Ein Mercedes kam ihr entgegen. Der Fahrer signalisierte heftig mit der Lichthupe, als er den wild hin und her schlingernden Opel auf sich zuschießen sah, und Rachel erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein schreckensbleiches Gesicht und vor Entsetzen weit aufgerissene Augen, dann war sie vorbei und verfolgte den weiteren Weg des anderen Wagens im Rückspiegel. Die Bremslichter des Mercedes leuchteten grellrot auf, was Rachel nicht besonders überraschte. Aber der Fahrer hielt keineswegs an, um ihr erbost nachzublicken oder sich vielleicht die Nummer des Amokfahrers zu notieren. Er hatte einen sehr viel handfesteren Grund, genauer gesagt zwei: beide trugen schwarze, vor Nässe glänzende Regenmäntel und standen mitten auf der Straße. Der eine etwas verkrümmt, als versuche er sein verletztes Bein möglichst wenig zu belasten (vielleicht hatte er ja vor kurzem eine unangenehme Begegnung mit einem Wagen gehabt?), der andere mit gespreizten Beinen und weit vorgestreckten Händen, in denen er eine Pistole hielt. Rachel beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie der Wagen mit kreischenden Reifen endgültig zum Stehen kam. Der Mann mit der Pistole bedrohte den Fahrer unverwandt weiter, während sein Begleiter hastig um den Mercedes herum humpelte und die Tür aufriss. Rachel konnte sich lebhaft vorstellen, wie es weiterging, und löste ihren Blick vom Rückspiegel. Rücksichtslos trat sie das Gaspedal bis zum Boden durch, aber das Ergebnis war höchst mäßig. Der Motor heulte zwar schrill auf, aber der Wagen wurde keinen Deut schneller, sondern schien im Gegenteil eher an Tempo zu verlieren. Auf dem Armaturenbrett flackerte ein halbes Dutzend roter Lämpchen um die Wette und der verbrannte Gestank war wieder da, bösartiger und durchdringender als vorher. Noch ein paar Augenblicke und die Karre würde einfach auseinander fallen – wenn sie Glück hatten. Oder in Flammen aufgehen, wenn
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