Flut: Roman (German Edition)
seiner rechten Hand, das sie bisher nicht hatte identifizieren können, gerann zu einer Pistole – die Standardpolizeiwaffe, nicht so schwer und nicht annähernd so bösartig wie die, die sie in Händen hielt, aber nichtsdestoweniger eine Waffe! –, die mit fantastischer Schnelligkeit hochkam und sich auf ihre Stirn richtete.
»Die Waffe fallen lassen!«, schnappte der junge Polizist. »Und keine Bewegung!«
Rachel starrte ungefähr eine halbe Sekunde lang ihn, dann etwa eine ganze die Achtunddreißiger in ihren Händen an, und irgendwie gelang es ihr einfach nicht, seine Worte mit dem Ding in Zusammenhang zu bringen, das schwer und hässlich wie eine aus Blei gegossene Kröte auf ihrer Handfläche ruhte. Dafür sagte sie etwas ganz und gar Blödsinniges; etwas, von dem ihr erst später klar wurde, dass es sie in diesem Moment gut und gerne das Leben hätte kosten können: »Also was denn nun?«, fragte sie. »Die Waffe fallen lassen oder keine Bewegung? Beides zusammen geht ja wohl schlecht.«
Der Polizeibeamte trat einen weiteren halben Schritt vom Wagen zurück und ergriff seine Waffe nun mit beiden Händen. Ihre Mündung zitterte, aber nicht so stark, dass eine realistische Chance bestand vorbeizuschießen. »Weg mit der Waffe!«, befahl er laut und mit einer Stimme, in der deutlich mehr Angst als antrainierte Autorität lag. »Und raus aus dem Wagen – sofort!«
Rachel starrte ihn noch eine weitere Sekunde lang an – eine Ewigkeit, wenn man in eine Pistolenmündung blickte, an deren anderem Ende ein äußerst nervöser junger Streifenpolizist stand, durch dessen Kopf in diesem Moment alle möglichen Erinnerungen an ermordete Kollegen, schießwütige Terroristen und durchgeknallte Jugendliche schossen, die zu viele amerikanische Actionfilme gesehen hatten, die ihnen das Gefühl gaben, einen Cop abzuschießen sei ein Kavaliersdelikt oder irgendeine spezielle Art der Mutprobe; dann endlich ließ sie die Waffe zu Boden fallen. Sie konnte regelrecht hören, wie ihrem uniformierten Gegenüber ein weitaus größeres Gewicht vom Herzen fiel.
Trotzdem wedelte er unwillig mit seiner Pistole und bellte: »Raus aus dem Wagen! Und ganz langsam!«
»Hören Sie«, begann Rachel, »das ist jetzt … alles ein Irrtum. Ich bin nicht –«
»Aus dem Wagen, habe ich gesagt! Auf der Stelle!«
Rachel resignierte. Sehr vorsichtig öffnete sie die Tür, stieg aus und hob beide Hände in Schulterhöhe. Obwohl sie selbst mit den Nerven am Ende war, konnte sie die Nervosität des jungen Beamten durchaus verstehen. Die Medien waren voll mit Meldungen über Polizistenmorde und Attentate und wahrscheinlich war im Moment kein Zeigefinger so locker wie der eines Streifenbeamten, der einen Unbekannten mit einer Waffe in der Hand vor sich sah; ein indirekter Erfolg der versammelten Vollidioten dieses Landes, die lautstark und möglichst bewaffnet gegen die Polizeigewalt demonstrierten. Ja, sie konnte den Beamten durchaus verstehen – aber das änderte nichts daran, dass sie eine gerechte Empörung empfand, als er sie grob packte und noch gröber herumwirbelte und gegen den Wagen stieß, kaum dass sie ausgestiegen war. Instinktiv fing sie ihre Bewegung mit ausgestreckten Armen ab und bedauerte diese Reaktion sofort, denn ihre Handgelenke sandten Wellen dumpfen Schmerzes bis in ihre Schultern und den Nacken hinauf, die ihr die Tränen in die Augen trieben. »Bitte hören Sie mir doch zu«, keuchte sie. »Es ist alles ein Missverständnis. Ich kann es erklären.«
Die Reaktion fiel nicht unbedingt anders aus, als sie erwartet hatte, wenn auch völlig anders als erhofft: Eine zornige Bewegung fegte ihre Füße auseinander und so weit nach hinten, dass sie nun vollends hilflos gegen den Wagen gelehnt dastand. Ihr gesamtes Körpergewicht lastete auf ihren verstauchten Handgelenken, eine Höllenqual, die sie sich vor fünf Minuten noch nicht einmal hätte vorstellen können, trotz allem. Aber es wurde noch schlimmer: Rachel zerbrach sich verzweifelt den Kopf darüber, was sie sagen konnte, um ihren Peiniger zum Einlenken zu bewegen, doch sie kam nicht einmal dazu, den Gedanken ganz zu Ende zu denken. Eine Hand von der Größe und Kraft einer Bärenpranke ergriff ihren Arm und drehte ihn mit einem brutalen Ruck nach hinten, und dann hörte sie ein Geräusch, das sie noch nie im Leben wirklich vernommen hatte, von dem sie aber trotzdem sofort und jenseits allen Zweifels wusste, was es bedeutete: Das metallische Zuschnappen einer
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