Flut: Roman (German Edition)
unten an der Treppe auf sie wartete. Der Kommissar zog erstaunt die Augenbrauen zusammen, als er ihr so völlig verändertes Aussehen registrierte, aber er sagte nichts dazu, sondern streckte nur schweigend die Hand nach der Reisetasche aus und drehte sich in der gleichen Bewegung herum.
»Geld, Papiere, Kreditkarten?«, sagte er.
»Brauche ich das denn?«, gab Rachel zurück. »Ich dachte, da, wo wir hingehen, ist Vollpension.« Trotzdem trat sie rasch, wenn auch ohne viel Hoffnung, an den Schreibtisch heran. Ihre Handtasche befand sich noch ungefähr an der gleichen Stelle, an der sie sie am Morgen abgelegt hatte, aber der Inhalt war über die gesamte Platte verteilt. Die kleine lederne Brieftasche mit ihrem Personalausweis, dem Führerschein und ihrer EC-Karte fehlte. Rachel war nicht überrascht.
»Vermutlich hat De Ville sie in Verwahrung genommen«, sagte Naubach finster.
»Weil er ein fürsorglicher Polizist ist und nicht will, dass irgendetwas verschwindet?«, fügte Rachel hinzu. »Es könnte ja immerhin sein, dass Einbrecher vorbeikommen und hier alles durchwühlen. Die Zeiten sind schlecht.« Sie grub ohne große Hoffnung weiter in ihrer Handtasche und fand immerhin das kleine Plastiketui mit ihrer Kreditkarte, das De Villes Leute offensichtlich übersehen hatten. Manchmal, dachte sie spöttisch, lohnte es sich eben doch, auf die Warnungen zu hören, die man ununterbrochen bekam – ob man nun wollte oder nicht. Es machte Sinn, Ausweis und Kreditkarte nicht zusammen aufzubewahren.
Zumindest dann, wenn man vorher von Terroristen überfallen, um ein Haar verschleppt und um ein noch knapperes bisschen umgebracht und zu allem Überfluss auch noch von den Agenten irgendeiner streng geheimen Dienststelle heimgesucht worden war …
Naubach sah sie einen Moment lang unentschlossen an, als sei er nicht ganz sicher, ob er ihr das Nachfolgende tatsächlich sagen sollte, dann murmelte er: »Der Kerl ist kein Polizist.«
»Was denn sonst?«
Statt zu antworten, drehte sich Naubach herum und ging mit raschen Schritten zur Tür. Er sprach erst weiter, als sie draußen im Wagen saßen und er den Motor angelassen hatte. »Ich habe ein bisschen herumtelefoniert, während ich auf Sie gewartet habe. Ich weiß nicht, wer er ist. Aber ich weiß ziemlich genau, was er nicht ist. Ein Polizeibeamter.« Er fuhr los.
Rachel warf einen Blick zu den Streifenbeamten hin, die sich noch immer damit beschäftigten, die Papiere der beiden vorwitzigen Reporter einer sehr gründlichen Prüfung zu unterziehen, dann griff sie nach dem Sicherheitsgurt, ließ ihn einrasten und fragte: »Was ist er dann?«
»Keine Ahnung«, antwortete Naubach. »Aber ich kriege es noch raus. Keine Angst. Ich habe vielleicht nicht so einen hübschen Sonderausweis wie er, aber nach dreißig Jahren in dem Job kennt man eine Menge Leute. Manchmal ist das nützlicher als ein Stück in Plastik eingeschweißtes Papier.«
Was war das, was sie in seiner Stimme hörte? Neid? Ärger? Vielleicht war Naubach ja einfach nur wütend auf De Ville, weil der Sonderbeauftragte des Innenministeriums ihn ganz unverblümt so behandelte, wie Naubach es normalerweise gewohnt war, seinerseits mit Menschen umzugehen; vorzugsweise mit Verdächtigen. Sie nahm sich vor, die Distanz zwischen ihnen nicht noch weiter schrumpfen zu lassen. Die zurückliegende Stunde hatte sie dazu verleitet, Naubach als eine Art stillen Verbündeten zu betrachten, aber das war vermutlich ein Irrtum. Nur weil es jemanden gab, den sie beide nicht leiden konnten, wurde der Kommissar nicht automatisch zu ihrem Verbündeten oder gar Freund.
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte sie geradeheraus.
»Weil ich will, dass Sie sich vor De Ville in Acht nehmen«, antwortete Naubach in leicht verärgertem Tonfall. »Ich weiß nicht, wer dieser Kerl ist, aber ich kenne Typen wie ihn zur Genüge. Trauen Sie ihm nicht einmal so weit, wie Sie ihn sehen können.«
»Wieso?«
»Er wird den Fall aufklären, da bin ich ziemlich sicher.« Naubach schnaubte verächtlich. »Aber Sie haben ja gerade selbst gesehen, wie wenig wählerisch er in seinen Methoden ist. Es könnte sein, dass Sie dabei auf der Strecke bleiben. Ich will nicht, dass Sie Schaden nehmen.«
»Haben Sie gerade Ihr Herz für mich entdeckt?«, fragte Rachel.
Naubach sah sie ernst an. »Nein. Ich werde dafür bezahlt, Schaden von den Menschen in dieser Stadt fernzuhalten. Sie vertrauen mir. Und wenn schon nicht mir, dann dem, was ich
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