Flut: Roman (German Edition)
repräsentiere.«
Rachel schwieg mit einem Mal sehr nachdenklich und sie nahm wenigstens einen Teil von dem zurück, was sie über Naubach gedacht hatte, weil sie spürte, wie aufrichtig diese Worte gemeint waren. Vielleicht waren es die ehrlichsten, die er in ihrer Gegenwart gesagt hatte, seit sie sich kannten. Ganz egal, was sie persönlich von ihm halten mochte, auf seine Art war er ein ehrlicher Mann. Vielleicht hatten ihm drei Jahrzehnte Polizeidienst einfach nur zu viele Illusionen genommen.
Sie fuhren eine Weile schweigend durch den Regen, dann fragte Rachel: »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Kommt drauf an.«
»Ich möchte Tanjas Eltern besuchen«, sagte Rachel.
»Wir haben nicht viel –«
»Nur fünf Minuten, bitte. Das … das ist das Mindeste, was ich ihnen schuldig bin.«
Naubach sah kurz, aber sehr konzentriert in den Rückspiegel, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich nicht verfolgt wurden, ehe er antwortete: »Also meinetwegen. Gut. Aber wirklich nur fünf Minuten. Ich bin erst beruhigt, wenn wir die Stadt verlassen haben.«
Es hätte eine Menge gegeben, was Rachel darauf hätte sagen können, aber sie hüllte sich in Schweigen; irgendwie hatte Naubach ja sogar Recht.
***
Sie brauchten nur wenige Minuten, um Tanjas Elternhaus zu erreichen, ein gepflegtes, aber ziemlich fantasieloses Einfamilienhaus, das hinter einem sorgsam angelegten, aber vollkommen fantasielosen Vorgarten in einer schmucken (und hoffnungslos fantasielosen) Straße voller Einfamilien- und in Dreiergruppen angeordneter Reihenhäuser lag. Naubach fragte sie weder nach dem Weg noch nach der Hausnummer, was bewies, dass er schon einmal hier gewesen war, sondern parkte den Wagen direkt in der Garagenauffahrt, drehte den Zündschlüssel herum und streckte die Hand nach dem Türöffner aus.
»Bitte nicht«, sagte Rachel. »Ich möchte –«
»Ich verstehe.« Naubach zog die Hand zurück. »Sie wollen allein mit ihren Eltern reden. Aber machen Sie es kurz, bitte. Ich brenne darauf, ein paar Takte mit meinem geschätzten Kollegen zu sprechen.«
Spätestens mit der letzten Bemerkung verscherzte er sich wieder eine Menge der Sympathien, die er sich in den letzten Minuten bei Rachel erworben hatte. Aber immerhin beharrte er nicht darauf, sie zu begleiten, und das war ja auch schon etwas. Es war schon erstaunlich, wie schnell man bescheiden wurde, dachte sie.
Sie stieg aus, ging mit schnellen Schritten um den Wagen herum und lief die drei Stufen zur Haustür hinauf, wobei sie immer langsamer wurde, ohne es zu merken. Ihr Herz begann zu klopfen und sie fühlte sich sehr unsicher. Sie war der Meinung gewesen, Tanjas Eltern diesen Besuch irgendwie schuldig zu sein, aber nun wusste sie nicht mehr, was sie ihnen sagen sollte. Nicht einmal, ob es überhaupt richtig war, hierher zu kommen.
Die Tür wurde geöffnet, ehe sie die Hand halb nach der Klingel ausgestreckt hatte, und Tanjas Mutter sah ihr entgegen. Rachel war sehr erleichtert, dass Susanne Breuling ihr aufmachte, und nicht etwa Frank, Tanjas Mann. Aber sie erschrak zugleich auch. Sie kannte Tanjas Mutter als eine stille, ein wenig vor der Zeit gealterte Frau, die sich ein gütiges Wesen bewahrt hatte und stets die Andeutung eines Lächelns im Gesicht trug. In den Jahren nach dem viel zu frühen Tod ihrer Eltern hatte Susanne sich rührend um sie gekümmert und war fast so etwas wie eine Ersatzmutter für sie geworden, ganz bestimmt aber eine mütterliche Freundin.
Jetzt wirkte sie um zehn Jahre gealtert, wenn nicht mehr. An die Stelle des stets irgendwie unter der Oberfläche anwesenden Lächelns war ein Ausdruck tiefer Verbitterung und großen Leids getreten, und da war etwas in ihrem Blick, das Rachel erschauern ließ. Sie wusste nicht, was es war, aber es war nichts Gutes. Befangen, wie sie war, brachte sie kein Wort hervor, sondern sah Tanjas Mutter nur mit heftig schlagendem Herzen an und musste plötzlich mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen, die ihr in die Augen steigen wollten. Vielleicht gelang es ihr nur deshalb, sie zurückzuhalten, weil sie wusste, dass die alte Frau vor ihr dann auch anfangen würde zu weinen, und das wollte sie nicht.
»Rachel! Ich bin so froh, dass du noch da bist!« Es war Tanjas Mutter, die das Schweigen schließlich brach, und sie tat es auf eine Art und in einem Ton, der Rachel weit mehr erschreckte als erleichterte. Sie konnte immer noch nichts sagen. In ihrer Kehle war ein bitterer Klumpen, der sich
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