Flut: Roman (German Edition)
nicht herunterschlucken ließ.
Susanne Breuling trat einen halben Schritt zurück und zog die Tür dabei weiter auf, blickte aber zugleich misstrauisch an Rachels Schulter vorbei zu dem Wagen hin, der in der Garagenauffahrt stand. Ihr Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. Wenn schon nicht das Fahrzeug, so hatte sie doch ganz bestimmt seinen Insassen erkannt.
»Er kommt nicht herein«, sagte Rachel hastig. »Und ich kann auch nicht lange bleiben. Nur ein paar Minuten.«
Es war natürlich vollkommen absurd – sie musste sich irren –, aber für eine halbe Sekunde schien es ihr, als zögere Tanjas Mutter, sie hereinzulassen. Dann deutete sie ein Nicken an und gab die Tür frei.
Rachel warf noch einen raschen Blick über die Schulter zu Naubachs Wagen zurück und trat dann ein. Drinnen war es dunkel und so kühl, dass sie fröstelte. Tanjas Mutter hatte sich herumgedreht und ging mit langsamen Schritten in Richtung Wohnzimmer, ohne sich davon zu überzeugen, ob sie ihr folgte. Das war an sich nichts Besonderes; Rachel gehörte praktisch zur Familie, doch auch wenn sich dieses Verhältnis seit Tanjas Heirat ein wenig abgekühlt hatte: dieses Verhalten war eher ein Akt des Vertrauens als der Unhöflichkeit. Jetzt aber schien es ihr anders. Sie kam sich vor wie ein Gast, der jedwedes Recht hatte, hier zu sein, aber nicht mehr ganz so willkommen war wie in der Vergangenheit. Dann wurde ihr klar, dass sie Tanjas Mutter damit bitter Unrecht tat. Natürlich benahm sie sich seltsam – was hatte sie denn erwartet? Sie selbst stand noch immer unter dem Schock, den Naubachs Eröffnung ihr bereitet hatte, und obgleich es lange her war, erinnerte sie sich noch genau an den tiefen Schmerz, den sie empfunden hatte, als ihre Eltern kurz nacheinander und binnen eines einzigen Jahres starben. Um wie viel größer musste Susannes Leid sein, denn sie hatte ein Kind verloren. Vielleicht war es das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren konnte. Sie hatte jedes Recht, sich zu benehmen, wie immer sie wollte!
Die Ruhe fiel Rachel auf. Das Haus war von einer Atmosphäre stiller Trauer erfüllt, die ihren Einfluss auch in die physikalische Welt hinein zu erstrecken schien. Es war nichts Gutes an diesem Schweigen. Wenn Tanjas Eltern trauerten, so war es keine Verarbeitung, sondern Bitterkeit, ein Vorwurf, der dem Schicksal und dem Universum in seiner Gänze galt. Tanjas Vater saß auf der Couch und starrte ins Leere. Er nahm keinerlei Notiz von ihr, auch nicht, als sie auf ihn zu trat und »Guten Tag« murmelte. Rachel versuchte es kein zweites Mal. Karl Breuling schien in seinem eigenen Universum aus Schmerz und Verzweiflung versunken zu sein, was ganz gewiss nicht gut war, aber sie hatte weder die Möglichkeit noch die Macht, ihn daraus zu befreien, und vielleicht sollte sie es auch gar nicht.
»Setz dich«, sagte Tanjas Mutter. »Kaffee?«
»Nein, danke«, antwortete Rachel, nahm aber gehorsam Platz. »Ich habe wirklich nicht viel Zeit.«
Tanjas Mutter nickte mit ausdruckslosem Gesicht und ließ sich ihr gegenüber auf die Couch sinken, direkt neben die Statue, die einmal ihr Mann gewesen war. Er warf ihr nicht einmal einen Blick zu.
»Ich … ich habe es gerade erst gehört«, begann Rachel. »Es tut mir so unendlich Leid. Wenn ich gewusst hätte, was passiert ist, wäre ich selbstverständlich sofort zurückgekommen.« Das war gewiss kein Trost. Es war nicht einmal hilfreich und Rachel hätte sich selbst ohrfeigen können für diese Worte. Sie kam sich immer noch so unbeholfen vor wie vorhin, als sie versucht hatte, mit Darkov zu reden, aber tausendmal hilfloser. Es war ihr zeit ihres Lebens niemals schwer gefallen, mit Worten umzugehen, doch nun waren sie alle verschwunden.
Aber sie war schließlich auch noch nie in einer Situation wie dieser gewesen.
»Was hätte es schon genutzt?«, sagte Tanjas Mutter nach einer Weile. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist gut, dass du nicht hier warst. Vielleicht wärst du sonst auch …«
Was hatte sie sagen wollen? Entführt? Verschwunden? Tot? Besser, sie fragte nicht danach. Rachel sah sich linkisch im Zimmer um und erneut fiel ihr die Stille auf. Das Haus war einfach zu ruhig. Weder ein Radio noch der Fernseher lief. Die Jalousien waren heruntergelassen und sperrten die Straßengeräusche aus. Dennoch hätte es nicht so still sein dürfen. In diesem Haus fehlte nicht nur eine Person, sondern ein Teil des Lebens.
Sie räusperte sich unbehaglich. »Würde es euch etwas ausmachen,
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