Flut: Roman (German Edition)
mir zu erzählen, was passiert ist?«, fragte sie stockend.
Tanjas Vater sah nun doch auf und starrte sie wortlos an, aber seine Frau antwortete: »Nichts. Sie ist einfach weggegangen und nicht zurückgekommen. Am vergangenen Mittwoch. Sie … wollte nur eine Zeitung holen und einen Termin beim Arzt machen, aber sie ist einfach nicht wiedergekommen.«
»Einen Termin beim Arzt? Ist es denn schon so weit?«
Tanjas Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind noch gute zwei Wochen. Und es ist alles in Ordnung, aber du weißt ja, wie sie ist.«
»Ja«, murmelte Rachel. Sie war sehr froh, dass Tanjas Mutter nicht gesagt hatte, wie sie war.
»Sie ist einfach nicht wiedergekommen«, wiederholte Susanne Breuling mit veränderter, leiserer Stimme und einem Blick, der jetzt beinahe so leer war wie der ihres Mannes. »Wie die anderen auch.«
»Alle, außer dir.«
Rachel drehte sich betont langsam herum. Natürlich hatte sie die Stimme sofort erkannt, ebenso das, was ihr Klang verriet, aber vielleicht irrte sie sich ausnahmsweise.
Sie irrte sich nicht. Es war Frank und er war betrunken, wie üblich. Sie hatte nicht gehört, dass er hereingekommen war, was bei der fast vollkommenen Stille hier drinnen schon beinahe ein kleines Wunder zu sein schien, aber auch eine Menge über ihren momentanen Gemütszustand aussagte. Er stand keine anderthalb Meter hinter ihr und sah aus trüb glänzenden Augen auf sie herab. Sie konnte nicht sagen, ob er tatsächlich schwankte oder ob es an dem blassen Licht hier drinnen lag, das seine Umrisse flackern ließ, aber er hielt eine brennende Zigarette in der rechten und eine Bierflasche in der linken Hand und sie konnte seine Fahne bis hierhin riechen.
»Hallo, Frank«, sagte sie ruhig. Eines würde sie ganz bestimmt nicht tun – sich von ihm provozieren lassen.
»Sie sind alle verschwunden«, fuhr Frank fort. »Alle drei, außer dir. Kannst du mir das erklären?«
Wider besseres Wissen antwortete sie: »Wenn es dich beruhigt – sie hätten mich auch fast erwischt. Heute Morgen. Sie haben sogar auf mich geschossen.«
Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Das war ganz gewiss nicht die Art von Neuigkeit, die sie in Gegenwart von Tanjas Eltern verkünden sollte, aber als sie sich zu ihnen herumdrehte, saßen die beiden nur stumm auf der Couch und blickten sie auf die gleiche, beunruhigende Art wie zuvor an. Sie wussten es bereits. Neuigkeiten schienen sich tatsächlich umso schneller herumzusprechen, je schlechter sie waren.
»Aber sie haben dich nicht getroffen.« Frank verkniff es sich, leider hinzuzufügen, aber irgendwie hörte sie es trotzdem. »Aber das hätte mich auch gewundert, bei dir.«
Es fiel Rachel zwar schwer, aber sie ignorierte selbst diese Bemerkung und schaffte es irgendwie, ruhig zu bleiben. Wenn sie allein gewesen wären, hätte sie vielleicht anders reagiert. Aber sie wollte Tanjas Eltern ganz gewiss nicht zumuten, sich jetzt noch einen lautstarken Streit zwischen ihr und dem ungeliebten Schwiegersohn anzuhören. Unglückseligerweise war Frank nicht ganz so rücksichtsvoll. Dieses Wort gehörte nicht unbedingt zu seinem Sprachschatz.
Er umrundete die Couch langsam und mit nun eindeutig leicht schwankenden Schritten, und als er weitersprach, hörte sie, dass er zwar noch nicht lallte, aber bereits Mühe hatte, sich zu artikulieren: »Es sind drei Leute verschwunden, innerhalb eines einzigen Tages. Nur dich haben sie nicht erwischt – obwohl sie sogar auf dich geschossen haben. Kannst du mir das vielleicht erklären?«
»Nein«, antwortete Rachel. Sie konnte es ja auch wirklich nicht. »Aber die Polizei ist bereits auf der Spur der Täter. Ich bin ganz sicher, dass sie sie finden.«
Und dass sie Tanja auch zurückbringen. Warum war es ihr eigentlich nicht möglich, diese wenigen, einfachen Worte auszusprechen? Unwahr oder nicht, in diesem Moment hätten sie einen gewissen Trost gespendet, und sei es auch nur ihr selbst.
»Wenn sie dann noch am Leben ist, ja«, giftete Frank mit schwerer Zunge. Die Flasche Bier in seiner Hand war nicht die erste, die er an diesem Tag trank, und es würde auch nicht die letzte sein.
»Du bist betrunken«, sagte Rachel sanft. Sie versuchte aufzustehen, aber Frank trat so rasch und mit solcher Schnelligkeit auf sie zu, dass sie erschrocken wieder zurücksank.
»Ja, ich bin betrunken, verdammt noch mal«, grölte er. »Und? Habe ich etwa nicht das Recht dazu? Meine Frau ist verschwunden und du sitzt hier und grinst
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