Flut: Roman (German Edition)
wenigstens keine, mit der sie etwas anfangen konnte.
Der Aufzug bewegte sich mit quälender Langsamkeit nach unten. Es vergingen nur Sekunden, bis er das Erdgeschoss erreicht hatte, und wie durch ein Wunder hielt er unterwegs weder an noch feuerte irgendjemand mit einer Maschinenpistole durch die geschlossenen Türen oder warf von oben eine Handgranate auf sie herab – nichts davon hätte sie wirklich überrascht –, aber sie hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit in dem zwei mal zwei Schritte messenden Metallkasten eingesperrt zu sein. Vielleicht war sie auch längst tot und dies war der Aufzug zur Hölle, der erst anhalten würde, wenn sie die Ebene des ewigen Fegefeuers erreicht hatten.
Es war natürlich eine alberne Vorstellung, aber Rachel lief trotzdem ein eisiger Schauer über den Rücken, als die Türen schließlich auseinander glitten und sie in die dahinter liegende Halle hinausblicken konnte – der Anblick hatte etwas von Dantes Visionen des Infernos.
Die zweite Granate, deren Explosion sie gehört hatte, war unmittelbar vor dem Eingang der Klinik eingeschlagen, wo nun ein zwei Meter tiefer rauchender Krater klaffte. Rachel starrte entsetzt auf die zahlreichen reglosen Körper, die überall vor oder auch ein Stück hinter dem Eingang lagen. Ihre genaue Anzahl war nicht festzustellen, denn obwohl seit der Explosion erst eine oder zwei Minuten vergangen sein konnten, wimmelte es in der Halle und draußen vor dem Gebäude bereits von Ärzten, Krankenpflegern und Schwestern, die verzweifelt versuchten, den Verwundeten zu helfen, obwohl etliche von ihnen selbst verletzt zu sein schienen. Die zehn Meter breite Glasfront der Halle war verschwunden, und auch hier glitzerten buchstäblich Millionen von Scherben auf dem Boden; ein tödlicher Regen, der vermutlich für den allergrößten Teil der Verletzten verantwortlich war.
Darkov, der vor ihr aus der Kabine getreten war, erstarrte mitten im Schritt und sah sich schockiert um. »Großer Gott!«, flüsterte er.
Gott hat damit bestimmt nichts zu tun, dachte Rachel. Laut sagte sie: »Wie gesagt: Ihre Freunde beginnen allmählich ungeduldig zu werden.«
Es war das zweite Mal, dass sie diese Formulierung benutzte – und diesmal ganz bewusst –, und das zweite Mal, dass Darkov nur mit einem verunsicherten Blick reagierte und nicht irgendetwas sagte wie: Sie sind nicht meine Freunde. Ganz plötzlich war sie nicht mehr sicher, dass das nichts zu bedeuten hatte.
»Entsetzlich«, murmelte er. »Das … das muss ein Unfall gewesen sein. So etwas würden sie niemals absichtlich tun. Nicht einmal sie.«
Das war zu viel. Rachel trat mit einem entschlossenen Schritt zur Seite und drehte sich demonstrativ zu ihm um. »Ich gehe keinen Schritt weiter«, sagte sie. »Es sei denn, Sie erzählen mir jetzt, was hier los ist. Und was Sie mit diesen Kerlen zu tun haben.«
»Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Darkov nervös. »Bitte, du musst mir einfach vertrauen. Du bist in großer Gefahr.«
»Das sehe ich nicht so.« Rachel machte eine Kopfbewegung nach draußen. Zwischen den Verletzten und den Ärzten und Krankenschwestern, die sich um sie bemühten, tauchten jetzt immer mehr Polizeibeamte auf, die sich zwar ebenfalls um die verwundeten Menschen kümmerten, dennoch aber Polizisten waren. Nach dem, was gerade eben hier passiert war, musste es schon an Selbstmord grenzen, hier auch nur ein Taschenmesser zu ziehen, geschweige denn irgendeine andere Waffe. »Ich habe Zeit«, sagte sie. »Entweder Sie erklären mir, was hier los ist, oder ich gehe zu den Beamten dort draußen und bitte sie, mich festzunehmen und in das sicherste Gefängnis zu sperren, das es in diesem Land gibt. Also?«
»Du bist es mir schuldig«, sagte Darkov plötzlich.
»Quatsch!«, fauchte sie. »Sie haben mir vielleicht gerade das Leben gerettet, aber erst nachdem Sie mich selbst in Lebensgefahr gebracht haben, oder?«
»Glaub mir, du wärst nirgendwo vor ihnen sicher«, sagte Darkov. Und es war schon fast unheimlich – aber Rachel spürte einfach, dass er die Wahrheit sagte.
Ganz plötzlich überkam sie ein Gefühl von solchem Vertrauen, wie sie es in dieser Intensität vielleicht noch niemals zuvor im Leben gespürt hatte; allenfalls bei Tanja und wahrscheinlich nicht einmal dort. Sie wusste einfach, dass sie Darkov vertrauen konnte, und das mit einer Sicherheit, die etwas schon fast Erschreckendes hatte. »Was …?«, murmelte sie hilflos.
Bevor sie die Frage zu Ende formulieren konnte, flog
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