Flut: Roman (German Edition)
bewegten und ein dunkelhaariger Mann in nasser Lederkleidung heraustrat. Er hielt ein Gewehr in den Händen. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.
Erneut bewies De Ville, dass er über die Instinkte und Reaktionen eines Raubtiers verfügte. Er stieß sie mit dem verletzten Arm zu Boden, wirbelte in der gleichen Bewegung herum und griff mit der linken Hand unter die Jacke, zweifellos aus keinem anderen Grund als dem, eine Waffe zu ziehen. Die Kugel traf ihn, als er die Bewegung halb beendet hatte. De Ville wurde tatsächlich von den Füßen und gute zehn Zentimeter weit in die Höhe gerissen, wobei er eine groteske Dreiviertel-Pirouette beschrieb; sein rechter Arm machte eine weit ausholende Bewegung und die verchromte Pistole segelte nutzlos davon. Er brach zusammen und bewegte sich nicht mehr.
Auch Rachel war gestürzt, und diesmal so unglücklich, dass es ihr nicht gelang, sofort wieder auf die Füße zu kommen. Nicht, dass es ihr irgendetwas genutzt hätte. Der Mann stand keine fünf Meter vor ihr und sie hatte gerade mit eigenen Augen gesehen, wie wenig Skrupel er hatte, seine Waffe einzusetzen. Es machte den Unterschied, ob sie eine Kugel in die Brust oder in den Rücken bekam, mehr nicht.
Irgendwie gelang es ihr, sich auf die Ellbogen hochzustemmen, dann schwenkte der Gewehrlauf herum und richtete sich auf ihr Gesicht, und sie erstarrte mitten in der Bewegung. Sie hatte nicht einmal Angst. Dazu war die Situation einfach zu unwirklich. Der Fremde machte einen Schritt auf sie zu, löste die linke Hand vom Gewehr und machte eine herrische Geste, über deren Bedeutung nicht der geringste Zweifel bestand. Rachel rührte sich nicht, aber es gelang ihr immerhin, ihren Blick von der Mündung des großkalibrigen Gewehrs loszureißen und dem Mann ins Gesicht zu sehen. Sie erkannte ihn jetzt. Es war derselbe, der sie am Morgen gejagt hatte und um ein Haar erwischt hätte, wenn Benedikt ihn nicht mit dem Wagen angefahren hätte. Anscheinend war er nicht so schwer verletzt worden, wie sie bisher angenommen hatte.
»Aufstehen!«, befahl er barsch. »Los!« Seine Stimme war dunkel und rau und unterstrich noch den fremdartigen Eindruck, den sein Gesicht hinterließ, aber der Ton darin ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Befehls aufkommen. Wenigstens in einem Punkt, dachte sie, hatten Naubach und De Ville mit ihrer Theorie ins Schwarze getroffen: die Männer waren nicht mit der erklärten Absicht hier, sie zu töten. Aber er würde bestimmt auch nicht zögern, es zu tun, wenn sie sich widersetzte. Ganz offensichtlich war sie den Fremden tot immer noch lieber als auf freiem Fuß.
Sie zögerte nicht lange genug, um diese Theorie auf die Probe zu stellen, sondern arbeitete sich mühsam in die Höhe. Ihr verletzter Knöchel schmerzte – sie musste ihn sich abermals geprellt haben –, so dass sie sich reichlich ungeschickt dabei anstellte, und der Fremde tat etwas völlig Unerwartetes: Er streckte den Arm aus, um ihr zu helfen; wahrscheinlich nichts anderes als ein Reflex, der ihm zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, um ihn zu unterdrücken. Außerdem war es reichlich dumm.
Rachel griff nach seinem hilfreich ausgestreckten Arm und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen, aber nur gerade so weit, bis der Gewehrlauf nicht mehr direkt auf ihr Gesicht zielte, sondern schräg an ihr vorbei nach oben. Dann bewegte sie sich plötzlich sehr viel schneller und riss das rechte Knie in die Höhe. Er stand breitbeinig vor ihr; eine offene Einladung, der sie Folge leistete. Ihr Knie bewegte sich mit furchtbarer Kraft und Schnelligkeit nach oben und genau auf die Stelle zwischen seinen Beinen zu, an der man jeden Mann außer Gefecht setzen konnte, ganz egal, wie stark, hartgesotten und schwer bewaffnet er auch war. Wenn man traf. Rachel hätte es für vollkommen unmöglich gehalten, aber er wehrte ihren heimtückischen Angriff ohne die geringste Mühe ab, indem er seinerseits das Bein in die Höhe riss und seinen Oberschenkel zwischen ihr Knie und seine Genitalien brachte. Der Treffer musste ihm trotzdem ziemlich wehtun, aber er gab nicht einmal einen Laut von sich, doch er ließ ihren Arm los und versetzte ihr einen Schlag mit der flachen Hand, der sie haltlos gegen die Wand taumeln ließ. Als sich die roten Schleier vor ihren Augen hoben, zielte das Gewehr wieder auf sie.
»Nicht noch mal«, sagte er.
Das hatte Rachel auch nicht vor. Ihre Ohren klingelten noch immer von dem Schlag, den er ihr versetzt hatte, und
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