Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Buchhandlung ist noch deprimierender als das des Herrenausstatters. Grenzte nicht der Bremer Speckgürtel an die kleine Stadt, gäbe es die meisten Geschäfte ohnehin nicht mehr. Und auch das Haus mit dem Turm hat sich sehrverändert. Aus den Wohnräumen sind Büros geworden, in denen irgendwas mit Geld gemacht wird; die herrlichen Kugellampen aus weißem Glas, die in der Treppenhalle auf verschiedenen Höhen in der Luft zu schweben schienen, wurden durch ein voluminöses Leuchtgerät aus poliertem Messing ersetzt; und an den efeuumrankten Fenstern des Wintergartens, von wo aus man zwischen den alten Kastanien die Weser sehen kann, halten Saugnäpfe kleine Reagenzgläser. Sie dienen als Vasen für Kunststoffblumen. Das Einzige, was in Vegesack wirklich noch gebraucht wird, ist ein Verkehrsmittel zum Verlassen des Ortes: die Weserfähre, mit der Autofahrer ohne Umweg über die Bremer Innenstadt das Oldenburger Land erreichen können. Mit ihrem langen Rumpf, der flachen Kommandobrücke und dem charakteristischen Orange der Seitenwände ist sie schön anzusehen – aber auch dazu muss man den Ort nicht betreten. Man kann einfach an der Weserbiegung stehen bleiben und sich daran erfreuen, wie sie in idealer Beobachtungsferne zwischen den Bundesländern Bremen und Niedersachsen hin und her pendelt.
Genau dort stand vor knapp zweihundert Jahren Anton Radl und zeichnete, was er sah. Kurz darauf malte er den Anblick im Atelier auf Leinwand, ein Jahr später wurde er in Kupfer gestochen. Und was hatte er gesehen? Keine Stadt, sondern eine amphibische Landschaft, in der Erde und Wasser sich vielfältig berührten, ohne dass ein Element Oberhand über das andere gewonnen hätte. Nur der Ortskundige weiß, dass das Bild den Zusammenfluss von Lesum und Weser zeigt. Ohne dieses Wissen könnte man meinen, die Landzunge zwischen den beiden Flüssen rage in einen großen See oder gar eine Meeresbucht. Die Stimmung des Bildes istidyllisch. Auf der kleinen Halbinsel, deren Ufer von Lachen zerfranst ist, weiden Rinder. Am rechten Bildrand sind Hirten zu sehen. Sträucher, Holzgatter, ein Steg und zwei junge Eichen verstärken den Eindruck ländlicher Beschaulichkeit. In starkem, aber keineswegs schroffem Kontrast dazu öffnet sich zum Hintergrund hin eine maritime Szene von großer Weite. Am gegenüberliegenden Ufer steht ein von Masten und trockenliegenden Schiffsrümpfen gesäumtes Speichergebäude, zur Linken erstreckt sich eine mit Segelbooten gespickte Wasserfläche. Sie reicht bis zum Horizont, von dem allerdings nur ein schmaler Streifen zu sehen ist. In der Bildmitte hat sich nämlich ein bulliger Geestrücken zwischen Himmel und Wasser geschoben. Steil und weiß fällt seine Bruchkante zum Fluss ab. Nur oben scheint er bewachsen. Als trüge er ein dunkles Haar. Kaum zu glauben, dass dort keine Häuser stehen – die Aussicht muss doch herrlich sein!
Über dem Hochufer hängt eine große, grauweiße Formation aus Quellwolken. Wie ein Dach. Man muss genau hinsehen, um zu erkennen, dass die langgezogene graue Wolke am unteren Rand des Gebildes nicht natürlichen Ursprungs ist. Sie stammt von einem Schiff, dessen Position gerade so weit vom Betrachter entfernt liegt, dass man seine Details nicht sofort wahrnimmt. Es überquert den Fluss zur oldenburgischen Seite, ungefähr auf der Strecke, die heute die Fähre nimmt. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass es kein Segelschiff ist. Denn nicht nur die Wetterwolke, auch die unscheinbare Gestalt des Dampfers hat der Künstler sehr geschickt benutzt, um in dem lieblichen Sujet einen realistischen Inhalt zu verstecken. Das Schiff ist nicht allzu groß und sein Schornstein, der direkt aus dem Rumpf kommt, so lang und dünn, dass man ihn zunächst für einen abgetakeltenMast halten könnte. Doch hat man die Täuschung einmal durchschaut, wird man vielleicht sogar auf den Namen des Schiffchens kommen. Es besitzt nämlich ein geradezu ikonisches Profil: der Radkasten im vorderen Schiffsdrittel, die Aufbauten flach, Spannseile am langen Schornstein, die Heckfahne 45 Grad abgewinkelt – für den Kenner ist die Physiognomie der Weser , des vermeintlich ersten deutschen Dampfschiffs, genauso unverwechselbar wie die des Adler , der ersten deutschen Eisenbahn. Und wer ihre Geschichte kennt, für den klingt »zwischen Vegesack und Brake« nicht weniger historisch als »zwischen Nürnberg und Fürth«.
Der Stich stammt von 1821. Kaum vier Jahre alt, ist die Weser da schon ein Sinnbild. Sie
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