Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Sphären. Man kann sich mit ihrer Hilfe einen geographischen Raum vorstellen, aber man sieht nichts darin. Umgekehrt wieder bei Zweili: In seiner Welt setzt sich jeder Ort aus der Summe seiner Details zusammen, jede Pflanze und jedes Ding hat eine genaue Bezeichnung, die »Miele« des Vaters zum Beispiel ist nur bei ihm eine »Miele 98«, jedes Lied hat seinen Text, jeder Dorfbewohner hat Titel und Namen. Wenn die Familie sich in Zweilis Erzählung am Sonntag zu Tisch setzt, wird vor dem Essen gebetet: Erde, die uns dies gebracht, Sonne hat es reif gemacht. Diese Sonne, diese Erde, euer nie vergessen werde. Amen. Wenn sie gegessen haben, setzt sich der Vater an den Schreibtisch, raucht einen Zigarillo und erledigt die Post, wodurch eine behagliche Stimmung entsteht. An der Wand hängt ein Schild mit den Worten Tu’s gleich! Zweilis Kindheit erscheint als eine entbehrungsreiche, aber geordnete Welt, eine illustrierte Enzyklopädie des Landlebens; und erst als an einem schönen Frühlingsabend, beim gemeinsamen Gesang auf der Veranda, die Mutter plötzlich verstummt, sich am Tischbein festklammert und zu Boden sinkt, derVater die älteste Schwester ins Dorf nach dem Doktor schickt, tagelang im Haus nur noch geflüstert werden darf, für lange Zeit jede Glocke wie ein Totenläuten klingt und die Mutter nie wieder ganz die Alte wird – da erst gehört auch die Drohung ihres Untergangs zur Ordnung dieser Welt.
Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum.
Ich träumt’ in seinem Schatten
so manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Nun bin ich manche Stunde
entfernt von jenem Ort,
Und immer hör ich’s rauschen:
Du fändest Ruhe dort!
Einsis Welt hat keine Terminologie und keine Ordnung, darum ist sie auch nie vom Zusammenbruch bedroht. Sie kommt direkt aus dem Rückenmark, roh und schön wie ein Traum. Mal fliegt er frei wie ein Vogel über Wald und Heide, mal wird sein Gesicht so tief in den Sandboden gedrückt, dass der Mund nur noch ein knirschendes Mahlwerk ist. Ein unberechenbares Nebeneinander von Grauen und Glück. Bei Einsi stellt man sich keine Karten vor. Man hört auch keine Lieder. Aber man riecht den Moder der Pilzstelle, von der niemand außer ihm weiß; man hört die Angel ins Wasserplatschen und die Schwarzspechte klopfen; man spürt die einsetzende Dämmerung, als er und Vierli beschließen, den kleinen Waldbach doch nicht ganz bis zur Quelle zurückzuverfolgen; man friert, wenn er im Winter in kurzen Hosen rodelt; ist erfrischt, wenn er im Sommer in den Everser See oder unter der schattigen Brücke in die Aue springt; man nähert sich mit ihm bis auf wenige Schritte den gefährlichen Orten, dem Moor, das einen auf ewig zu verschlucken droht, oder der verhexten Kreuzung, an der sich vor Jahren ein Mord ereignet haben soll; man schmeckt das Kaffeebrot und den Butterkuchen, wenn er mit den Bauernfamilien Pause beim Kartoffelsammeln macht, und man spürt seine Freude, wenn es spätabends auf dem Hänger vom Feld zurück ins Dorf geht und dann mit einem Pferdefuhrwerk voller Kartoffeln durch den kühlen Wald nach Hause – so wie man die Prügel der Dorfjungen am eigenen Leib spürt (aber weil das aufkommende Mitgefühl sofort abgewürgt wird, schmerzen sie nicht lange: »Ach, hör auf, dooh, so war das eben. Die hatten ja auch keine Freude an mir«). Die Erinnerungsfetzen, die wie Blitze in der Dunkelheit aus ihm herausschießen, haben keine Botschaft. Aber sie haben einen Namen. Den Namen eines Buches. Es stammt von einem heute vergessenen, seinerzeit aber sehr beliebten Schriftsteller namens Ehm Welk und heißt Die Heiden von Kummerow. Es handelt von einer Bande Jungs in einem niederdeutschen Dorf, einer Welt zwischen Geisterglauben und Pastorenherrschaft, einer Huckleberry-Finn-Kindheit voller Abenteuer in der Natur. »Wenn du wissen willst, wie sich meine Kindheit anfühlte«, sagt M41, »dann musst du dieses Buch lesen. Da ist all das viel besser beschrieben, als ich es je könnte.« Ich habe es getan, nicht ohne Vergnügen. Leider konnte ich M41 nicht mehr sagen,dass mich seine hundert Sätze ohne Anfang und Ende, hingerotzt zwischen Fluten von Kaffee, Bergen von Kuchen und Batterien von Zigaretten, viel mehr bezaubert haben als der – von Prof. Dr. Hans Mayer mit einem gütigen Vorwort versehene – Vierhundertseitenroman des Fontane-Epigonen.
Eine Anekdote gibt es, die erzählen alle drei Brüder
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