Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
unerträglich grell begonnen wie in den frühen Märztagen, als meine Großmutter starb. Sollte ich über diesen Tod so etwas wie Traurigkeit empfunden haben, hätte er in der Rangliste meines Elends nur sehr weit hinten – unter »was auch noch passierte« – rangiert. Meine größte Sehnsucht galt dem Einbruch der Dunkelheit, wenn ich ohne den brennenden Fluchtimpuls, der tagsüber jede innere Ruhe verhinderte, im Bett liegen konnte. Doch schon kurz vor dem Einschlafen wich das Gefühl der Geborgenheit dem Gedanken an das Herzrasen, das mich am Morgen wieder wecken würde. An der Unterseite des Regalbretts, das über meinem Bett hing, hatte ich einen Zettel befestigt, auf dem stand: Steh auf, du Arschloch . Schon nach wenigen Tagen sah ich ihn nicht mehr.
Es sagt viel über den Grad meiner Verzweiflung, dass ich meine Mutter um Hilfe gebeten haben muss. Denn ich erinnere mich noch an den lakonischen Rat, den sie mir gab. Wenn du den Weg verloren hast, geh einfach weiter, hatte sie gesagt. Ein Ziel würde sich dann schon finden. (Das war eine von drei Maximen, die sie mir mitgab. Wenn du Geld hast, lautete die zweite, gib es aus: es wird zu dir zurückfließen.Und wenn das Geld knapp ist, so die dritte, kauf dir lieber eine Flasche Champagner als fünfzig Flaschen Bier.) Ich erinnere mich auch, dass ich an diese Worte dachte, als ich auf der Treppe zur Universitätsbibliothek haltmachte und minutenlang mit dem Gedanken spielte, umzudrehen und mich nach Ausbildungsmöglichkeiten bei der Kriminalpolizei zu erkundigen.
Ich ging weiter und las Treitschke.
Im obersten Stockwerk des Bibliotheksneubaus konnte man über die Dächer dieser entsetzlichen Stadt hinweg bis zur Rheinebene sehen. Durch die getönten Scheiben erschien sie in zartem Orange. Treitschke war irgendwie gelb. Gelb wie das Kaiserreich. Gelb wie die Erscheinung des schwebenden Hauses, Baujahr 1887, die mich seit dem Zwischenfall auf der Autobahn nicht mehr verlassen hatte. Das Lesen war eine Qual. Ich kratzte Zeile für Zeile zusammen und hatte keine Ahnung, wie aus diesen Wissenskrümeln je eine Seminararbeit entstehen sollte. Doch wenn ich, um mich von der Anstrengung zu erholen, ab und an aufsah und abwechselnd aus der Stadt hinaus zum Rhein und aus meinem Elend hinaus auf das gelbe Haus blickte, dann ging es mir zwar nicht besser. Aber wenigstens stand die Zeit mal still. Von solch seltenen Momenten der Linderung abgesehen, wirkten nicht einmal die sonst zuverlässigsten Stimmungsaufheller. Dass Werder um ein Haar Deutscher Meister geworden wäre, nahm ich zur Kenntnis wie das Ergebnis einer Schweizer Kantonswahl. Und dass ich 1995 in Freiburg das 1995 veröffentlichte Lied »Freiburg«, das ein Befreiungsschrei hätte sein können, überhaupt nicht bemerkte, ist ebenfalls sehr bezeichnend.
Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse,
Tanztheater dieser Stadt.
Ich bin alleine und ich weiß es,
und ich find es sogar cool,
und ihr demonstriert Verbrüderung.
Das Einzige, was irgendwie funktionierte, war Nazis jagen. Einen Nazi, genauer gesagt. Einen toten Nazi, um noch genauer zu sein. Zeit seines Lebens hatte mir mein Großvater kaum etwas bedeutet. Aber jetzt, als toter Sturmbannführer, wurde er mir ein treuer Begleiter, eine echte Stütze in der Not.
Den Entschluss zur Recherche hatte ich bereits auf der Rückfahrt aus Bremen gefasst. Und schon da war mir die Möglichkeit, Großvaters Tätigkeit bei der SS zu erforschen, wie ein Ast am Ufer eines bedrohlich schneller werdenden Flusses vorgekommen, den ich um keinen Preis mehr loslassen wollte. Es war erstaunlich einfach. Ein Anruf beim Berlin Document Center, eine Unterschrift, und keine zwei Wochen später hielt ich eine Kopie seiner Personalakte in der Hand. Als ich den Umschlag, der zu dick für den Briefkasten war, auf der Schwelle unserer Mansardenwohnung in der Unterwiehre liegen sah, durchzuckte mich helle Vorfreude. Für die Dauer eines Blitzes zeichneten sich vor mir die Umrisse eines Spielbretts ab, das ich so zauberhaft deutlich wie in diesem Augenblick meines ersten Erfolges als Nazijäger nie wieder sehen sollte. Aber es verschwand auch nicht mehr ganz. Wann immer ich in den kommenden Monaten, sei es über den Personaldokumenten des BDC, in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg oder im Berliner Bundesarchiv, wieder ein Schriftstück in den Händen hielt und mich fragte, wie es zu den anderen Stücken passte,kam es mir vor, als säße ich in einem
Weitere Kostenlose Bücher